Kapitel 3 - Schattenbild

Veröffentlicht am 24. November 2025 um 16:59

Aus den Aufzeichnungen von Khepri Khairy - 28. Oktober 1992
Es gibt Dinge, die man nicht laut aussprechen möchte, weil sie dadurch wirklich werden.
Die Stimme, die ich gehört habe, ist eines davon. Ich habe sie bisher gegenüber niemandem erwähnt. Nicht Percy, nicht Liliana, nicht Shukran.
Vielleicht, weil ich Angst habe, dass sie mich fragen, was sie gesagt hat und ich dann eingestehen müsste, dass es mir eine Heidenangst macht.
Es war kein Flüstern im Ohr. Eher ein Ziehen in den Knochen, wie ein Gedanke, der zu alt ist, um mir zu gehören.
Heute habe ich Harry Potter auf dem Gang gehört. Er sprach mit seinen Freunden über eine Stimme, die niemand sonst hört. Ich war zu weit weg, um jedes Wort zu verstehen, aber die Art, wie er es sagte… das Zittern in der Stille danach - es war das gleiche Gefühl.
Vielleicht ist es nur Einbildung. Vielleicht auch nicht.
Percy und ich haben inzwischen alles durchgesehen, was wir über alte Artefakte in Hogwarts finden konnten.
Nichts über das Amulett meiner Familie, aber etwas anderes.
Ein Bericht aus dem Jahr 1637 über eine „selbstschreibende Feder“ im Besitz des damaligen Zaubertränkemeisters. Die Beschreibung stimmt fast genau mit der überein, die ich benutzt habe, bevor Snape sie mir aus der Hand nahm. Ich habe noch nie gesehen, dass Professor Snape die Beherrschung verliert.
Heute war er bleich. Nicht wütend - ängstlich. Es war, als hätte die Feder ihn an etwas erinnert, das er längst vergessen wollte.
Ich frage mich, ob er mehr über die alten Schutzzauber des Schlosses weiß, als er zugibt.
Der Herbst wird dunkler, und das Schloss klingt anders. Treppen knarren, selbst wenn niemand sie betritt. Manchmal riecht die Luft nach Regen, auch wenn es draußen trocken ist. Und immer öfter habe ich das Gefühl, dass das Amulett in meiner Tasche lauscht. Ich habe es bisher nicht wieder getragen. Aber ich träume davon. Von grünen Augen im Dunkeln und einem Herzschlag, der nicht meiner ist. Ich kann noch nicht sagen, ob die Stimme etwas will - oder ob sie nur wartet, dass jemand endlich antwortet.


Der Morgen nach dem Angriff war anders.
Die Große Halle war zwar gefüllt wie immer, aber das übliche Stimmengewirr klang gedämpft, als hätte jemand den Ton heruntergedreht. Das Rascheln von Zeitungen und das Scharren der Löffel in den Schüsseln war das Lauteste, was zu hören war. Khepri schob sich zwischen zwei jüngeren Slytherins durch und ließ sich neben Liliana auf der Bank nieder. Ihre Freundin sah ungewöhnlich blass aus, die sonst so gelösten roten Locken streng zurückgebunden.
„Du hast es gehört?“ fragte sie leise, kaum dass Khepri sich etwas Kürbissaft eingeschenkt hatte. „Was genau?“ „Mrs. Norris. Versteinert. Irgendwo beim Eingang zur Großen Treppe.“ Khepri blinzelte. „Versteinert? Von wem?“ „Das weiß keiner. Nur, dass Harry Potter und seine Freunde die Leiche gefunden haben.“ „Natürlich.“ Khepri seufzte und griff nach einem Brötchen. „Wenn irgendwo was passiert, stolpert Potter drüber.“
Liliana beugte sich näher. „Manche sagen, er war’s.“ Khepri hob den Kopf. „Unsinn.“ „Sag das mal nicht zu laut. Einige aus Ravenclaw glauben’s. Und Flint hat schon verkündet, Gryffindor würde den Pokal diesmal nicht erleben.“ Khepri stöhnte leise. „Marcus ist echt unverbesserlich.“ „Er behauptet, Dumbledore würde Potter nur schützen, weil er sein Liebling ist.“ „Er behauptet viel.“
Khepri nahm einen Bissen, aber der Appetit blieb aus. Überall in der Halle wurde getuschelt. Schüler reckten sich über die Tische, tauschten Geschichten, die mit jedem Satz dramatischer wurden: Blut an der Wand, flüsternde Stimmen, Katzenaugen, die geblinzelt hätten. Khepri versuchte, das Zittern in ihren Händen zu ignorieren. Flüsternde Stimmen. Liliana bemerkte es. „Geht’s dir gut?“ „Ja. Nur... merkwürdige Nacht.“ „Albtraum?“ „So ähnlich.“
Ein lautes Scharren ließ sie aufsehen. Marcus Flint war gerade durch die Halle getreten, den Besen über der Schulter, und blieb für einen Moment mitten im Gang stehen. Sein Blick streifte kurz die Slytherin-Tafel, und einen winzigen Augenblick lang traf er Khepris. Dann ging er weiter, ohne ein Wort. Liliana grinste schwach. „Er guckt schon wieder, als hätte jemand seinen Quaffel gestohlen.“ „Vielleicht ist er einfach genervt, dass Potter mehr Aufmerksamkeit bekommt als er.“ „Oder du fasziniert ihn.“ „Bitte?“ „Er hat dich angesehen, Khepri.“
Khepri tat so, als hätte sie das nicht gehört. Sie kannte Marcus Flint seit der ersten Klasse und nie hatte er etwas anderes getan, als ihr mit größtem Vergnügen auf die Nerven zu gehen. Zugegeben, sie hatte diesen Gefallen immer erwidert. Sie faltete ihre Serviette und starrte in ihren Saft, der das Licht der schwebenden Kerzen grünlich zurückwarf. Etwas in der Halle fühlte sich anders an. Dichter, schwerer. Und tief in ihrem Inneren wusste sie, dass es nicht nur wegen Mrs. Norris war.

Der Gang zum Kerker war kühl, die Fackeln flackerten unruhig. Khepri hatte gerade ihr Buch unter den Arm geklemmt, als sie spürte, dass sie beobachtet wurde. Es war kein direktes Gefühl - eher ein ein instinktives Bewusstsein, dass jemand da war. „Du siehst aus, als hättest du die Nacht mit einem Poltergeist geteilt,“ sagte eine Stimme hinter ihr. Sie drehte sich um. Marcus Flint stand da, den Kragen seines Umhangs hochgeschlagen, die Hände in den Taschen. Das Licht warf Schatten auf sein Gesicht, ließ seine Wangenknochen schärfer wirken, als sie eigentlich waren. Gab ihm etwas weniger trollhaftes. Ließ ihn fast gut aussehen. Khepri schauderte. „Was willst du, Flint?“ „Nur reden.“ „Das glaub ich dir nicht.“ Er zuckte mit den Schultern. „Dann nenn’s Beobachten.“
Er trat einen Schritt näher, so dass sie ihm direkt in die Augen sehen musste. „Du hast’s auch gehört, oder?“ Khepri blinzelte. „Was?“ „Das Flüstern.“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Hauch. „Nachts. Irgendwas... in den Wänden. Im Wasser.“ Khepri starrte ihn an. Ihr Herz setzte kurz aus. „Ich weiß nicht, wovon du redest.“ Marcus schnaubte leise. „Natürlich nicht. Du weißt nie, wovon ich rede.“ „Weil du nie was sagst, Marcus.“
Einen Moment lang standen sie einander gegenüber, die Spannung zwischen ihnen greifbar. Dann seufzte er und lehnte sich gegen die Wand. „Ich hab letzte Nacht geträumt, glaub ich. Ich war in der Nähe der Kerker, und da war dieses Zischen...“ Er machte eine vage Bewegung mit der Hand. „Wie... Schlangen. Aber lauter. Und ich schwör dir, das Schloss hat geatmet.“
Khepri spürte, wie ihr der Atem stockte. „Du hast es geträumt,“ sagte sie leise. „Sicher.“ „Und jetzt stehst du hier und redest darüber, als wär’s echt.“ „Weil es sich echt angefühlt hat.“
Sie wollte etwas erwidern, aber seine Stimme hatte diesen Ton, der keine Widerworte zuließ - nicht hart, eher ehrlich. Und ehrlich war bei Marcus selten.
„Was, wenn du einfach müde bist?“ fragte sie, weicher. „Bin ich immer,“ erwiderte er trocken. „Aber das war anders. Irgendwas im Schloss ist nicht richtig. Und du –“ er hielt kurz inne, musterte sie – „du siehst aus, als wüsstest du das auch.“ Khepri wich seinem Blick aus. „Ich weiß nur, dass du mich gerade aufhältst und ich zur Toilette muss.“ „Natürlich,“ sagte er leise. „Lauf ruhig. So tust du wenigstens so, als wär alles normal.“
Sie blieb einen Moment stehen, ohne sich umzudrehen. „Vielleicht ist es das ja.“ „Ist es nicht,“ sagte Marcus. „Aber das sag ich dir, wenn du bereit bist,’s zu glauben.“

Professor Snape schritt lautlos durch die Reihen wie ein Schatten, und Khepri versuchte, sich auf den Kessel vor sich zu konzentrieren. Versuchte es wirklich.
Die Flüssigkeit im Inneren schimmerte mattblau. Eigentlich sollte sie gleichmäßig dampfen, aber stattdessen vibrierte die Oberfläche leicht – wie Wasser, wenn jemand darin spricht. Sie blinzelte. Für einen Moment glaubte sie, etwas zu hören. Ein Zischen, kaum hörbar, fast zu leise, um real zu sein.
Ihr Herz stolperte. Sie sah sich um, aber niemand reagierte. Liliana zwei Tische weiter kritzelte Notizen. Adrian schielte abwechselnd auf sein Rezept und auf Penelope Clearwater, die neben Percy saß. Nur Percy selbst bemerkte sie. Er hatte die Stirn in Falten gelegt, beobachtete sie von der Seite. „Khepri,“ zischte er leise, „du bist bleich. Alles okay?“ „Ja,“ flüsterte sie, „nur… konzentriert.“
Snape glitt an ihnen vorbei. „Wenn Sie wirklich konzentriert wären, Miss Khairy, würden Sie vielleicht nicht die falsche Reihenfolge der Zutaten verwenden.“
Khepri zuckte zusammen. Der Trank im Kessel begann, leicht zu schäumen. „Ich-“
„Keine Erklärung nötig,“ unterbrach Snape kühl. „Nur die Erkenntnis, dass Unwissenheit selten eine Zutat für Erfolg ist.“ Ein paar Schüler kicherten leise. Percy beugte sich über seinen Kessel, aber sein Blick glitt noch einmal zu ihr – besorgt, fast beschützend. Als der Unterricht vorbei war, blieb Khepri sitzen, während die anderen ihre Sachen packten. Percy wartete, bis Snape verschwunden war, dann setzte er sich auf den Tischrand. „Willst du mir jetzt sagen, was los ist?“ „Nichts ist los,“ sagte sie automatisch. „Du hast gezuckt, als hättest du was gehört. Und dein Trank… Khepri, diesen Trank hast du schon so oft geübt. Der hätte dir sehr leicht fallen sollen..“ Sie starrte in den blauen Rest am Kesselboden. „Ich… manchmal höre ich etwas. Ganz leise. Wie Flüstern. Ich dachte, ich bilde mir’s ein.“ Percy beugte sich näher. „Das Amulett?“ „Ich weiß es nicht.“ „Oder-“ „Percy.“ Ihre Stimme war plötzlich scharf, zu laut für den stillen Raum. „Bitte. Nicht jetzt.“ Er schwieg. Dann nickte er und stand auf. „Okay. Aber wenn es wieder passiert, sag’s mir.“
„Ich weiß.“, murmelte sie, aber Percy legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Nein,“ erwiderte er leise. „Ich mein’s ernst, Khepri.“ Er wandte sich zum Gehen, aber sie rief ihm hinterher:
„Percy?“ Er drehte sich um. „Danke.“ „Wofür?“ „Fürs Zuhören.“
Er lächelte nur kurz – ein echtes, warmes Lächeln, das sofort verschwand, als die Tür hinter ihm zufiel.
Khepri blieb allein zurück. Und in der Stille des leeren Klassenzimmers, über dem die Kessel leise nachdampften, hörte sie wieder das kaum wahrnehmbare Zischen, diesmal jedoch begleitet von einem Laut, der beinahe wie ihr Name klang.
Sie erstarrte. Ein Tropfen Tinte fiel von ihrer Feder auf den Tisch – und dort, wo er auftraf, zeichnete sich für einen flüchtigen Moment eine winzige Rune ab. Dann verlief sie, schwarz im Holz, und war verschwunden.

Die Bibliothek roch nach Staub, Leder und Regen, der leise gegen die hohen Fenster schlug. Khepri mochte diesen Geruch. Er erinnerte sie an Ordnung und Ruhe - Dinge, die sich in letzter Zeit aus ihrem Leben geschlichen hatten. Sie wollte Percy finden. Nicht, weil sie musste, sondern weil sie es immer tat, wenn etwas zu groß in ihr wurde. Er hatte eine Art, Unruhe zu glätten, selbst wenn er nichts sagte.
Aber als sie um die Ecke bog, sah sie ihn bereits - und blieb abrupt stehen. Er saß nicht allein. Penelope Clearwater hatte den Kopf leicht geneigt, während sie mit dem Finger über sein Pergament strich, ihm offensichtlich etwas zeigte. Ihr Lächeln war ruhig, freundlich, selbstbewusst. Percy beugte sich näher, und ihr gemeinsames Lachen klang leise, vertraut.
Khepri hätte sich am liebsten umgedreht, doch ihre Füße blieben stehen.
Liliana hatte es neulich noch erwähnt - dass Percy und Penelope „einfach süß zusammen“ seien. Und jetzt, wo sie die beiden so sah, musste Khepri ihr Recht geben.
Sie atmete tief durch, lächelte ein Lächeln, das keiner sah, und ging dann an den Regalen entlang, bis sie außer Sicht war.
Sie zog das erstbeste Buch hervor, „Europäische Schutzzauber im Wandel der Jahrhunderte“, und schlug es irgendwo in der Mitte auf. Die Seiten raschelten, als wäre das Buch beleidigt, und ein dünnes Pergament flatterte heraus. Khepri fing es auf. Es war ein Lesezeichen – alt, vergilbt, an den Rändern eingerissen. Darauf war eine Zeichnung: konzentrische Kreise mit kleinen, verwobenen Symbolen. Runen.
Sie runzelte die Stirn, beugte sich tiefer.
Darunter stand handschriftlich:
„Runen ägyptischer Herkunft. Kombination aus Schutz und Bindung.
Ungewöhnlich – zeigt Einfluss der alten Wüstenschulen.
Träger meist von Amuletten, nicht Zauberstäben.“

Khepri blätterte zurück zum Titel der Seite: „Magische Siegel jenseits des Kontinents.“
Ihr Blick blieb an einem bestimmten Begriff hängen: „Ankh-Auren. Magie des Lebens durch Erinnerung.“ Sie ließ die Finger über das Pergament gleiten, und für einen Moment spürte sie, wie es unter ihrer Haut vibrierte. Ein vertrautes Summen – das gleiche, das das Amulett manchmal ausstrahlte, kurz bevor es reagierte. „Das kann kein Zufall sein,“ flüsterte sie.
„Was kann kein Zufall sein?“ Sie fuhr erschrocken herum. Percy stand hinter ihr, den Stapel Bücher noch in der Hand, Penelope war nicht mehr zu sehen. „Oh- nichts,“ sagte Khepri schnell, schloss das Buch. „Ich wollte dich nicht stören.“ „Tust du nicht,“ antwortete er, aber er klang abwesend. „Penelope musste zum Unterricht.“ Khepri nickte. „Sie scheint nett zu sein.“ „Ist sie auch,“ sagte Percy und lächelte - warm, aber anders. Ein ganz anderes Lächeln, als das, was er ihr sonst schenkte. Nein, es war ein eindeutig verliebtes Lächeln.
„Ich habe übrigens etwas Interessantes gefunden,“ lenkte sie ab. „Runen mit ägyptischem Ursprung. Sie kombinieren Schutz und Bindung, genau das, was wir für Shukrans Spiegel versucht haben. Vielleicht erklärt das, warum sie nicht funktionieren.“ Percy legte die Bücher ab, beugte sich zu ihr. „Zeig mal.“ Sie tat es, und er las den Eintrag schweigend.
„Bindung durch Erinnerung,“ murmelte er. „Das klingt nach emotionaler Magie.“ „Das dachte ich auch. Vielleicht brauchen sie etwas, das stärker ist als ein Zauber.“ „Gefühle?“ „Vielleicht.“
Percy schloss das Buch, sah sie an. „Dann solltest du es versuchen. Du warst immer besser darin, Magie zu fühlen, statt sie zu befehlen.“ Für einen Moment war alles wieder wie früher. Nur sie, Percy und das leise Atmen der Bücher. Dann hob er das Pergament auf, das zwischen ihnen lag, und reichte es ihr. „Behalte das. Du wirst es brauchen.“ „Wieso?“ „Weil du nie weißt, wann sich etwas erinnert, Khepri.“
Sein Blick war sanft, aber da war etwas Neues darin, vielleicht Verantwortung, vielleicht Reife. Und als er ging, blieb sie allein zurück, das Pergament in der Hand und das Gefühl, dass sie der Antwort zur Hilfe für Shukran eventuell ein kleines bisschen näher gekommen war.

Die Sonne stand tief über dem See und legte glitzernde Lichtbahnen über die dunkle Wasseroberfläche. Die meisten Schüler waren drinnen – entweder in der Bibliothek, im Gemeinschaftsraum oder beim Quidditch. Nur Khepri und Liliana saßen am Ufer, die Umhänge als Decke unter sich ausgebreitet. Khepri hatte die Knie angezogen und hielt einen kleinen, silbergerahmten Taschenspiegel in den Händen. „Also,“ sagte Liliana, die sich neben ihr in die Sonne streckte, „was genau soll jetzt passieren?“
„Wenn ich das wüsste,“ murmelte Khepri. „Ich habe die Runen umgezeichnet, diesmal so, wie im Buch beschrieben. Das sollte eigentlich die Verbindung stabilisieren.“ Liliana stützte das Kinn auf die Hand. „Und du bist sicher, dass es diesmal nicht einfach wieder explodiert?“ „Letztes Mal war’s eine kleine Rauchwolke, kein Inferno.“ „Deine Definition von klein unterscheidet sich von meiner.“ Khepri grinste flüchtig, dann legte sie den Spiegel in den Schoß und flüsterte den Aktivierungszauber. Ein leises Summen vibrierte durch das Metall. Das Glas flackerte, die Oberfläche verzerrte sich, als ob Wasser darüber lief. Liliana richtete sich auf. „Okay… das sieht nach was aus.“ „Shhh.“ Khepri beugte sich vor. Im Spiegel glomm ein Licht - schwach, grünlich, als würde jemand eine Lampe hinter Nebel halten.
Dann erschien eine Kontur. Ein Schatten, vage menschlich. Ein Gesicht? „Shukran?“ flüsterte Khepri. Das Bild flackerte. Etwas, das wie eine Hand aussah, hob sich, als wolle es sie berühren – und im selben Moment zersplitterte das Glas. Der Spiegel zerfiel in feine, schimmernde Splitter, die sich im Sonnenlicht verflüchtigten wie Rauch.
Khepri riss die Hand zurück. „Verdammt!“ Liliana zuckte zusammen. „War das… er?“
Khepri nickte stumm. Eine Weile saßen sie einfach da, während die Sonne langsam hinter den Baumwipfeln sank. „Vielleicht,“ begann Liliana vorsichtig, „liegt’s gar nicht an deiner Magie. Vielleicht will die Verbindung einfach nicht gehalten werden.“ „Will?“ Khepri sah sie an. „Magie hat keinen Willen.“ „Das sagst du. Aber ehrlich, Khepri, bei dir hab ich langsam Zweifel.“ Khepri lachte leise, aber es klang brüchig. „Ich wollte ihm nur helfen. Er vermisst Maya so sehr.“ „Ich weiß.“ Liliana legte eine Hand auf ihren Arm. „Aber manchmal lässt sich das, was wir lieben, nicht durch Zauber festhalten.“ Die Sonne spiegelte sich im See, und für einen Augenblick sah Khepri darin etwas anderes – zwei schemenhafte Gestalten, die unter der Oberfläche standen, ineinander verschlungen wie Licht und Schatten. Sie blinzelte, und das Bild war verschwunden.
„Manchmal,“ sagte sie leise, „hab ich das Gefühl, dass etwas auf mich wartet.“ „Etwas Gutes?“ „Ich weiß es nicht.“
Liliana lächelte. „Dann find’s raus. Aber bitte ohne Rauch.“ „Versprochen,“ sagte Khepri.

Der Korridor vor dem Slytherin-Gemeinschaftsraum war still, abgesehen vom Knistern der Fackeln. Khepri blieb kurz stehen, um den Rest ihrer Bücher besser zu sortieren. Ihre Tasche war zu voll – wie immer. „Lernen Sie etwa noch mehr, Miss Khairy?“ fragte eine Stimme mit überdeutlicher Neugier. Sie hob den Kopf.
Aus dem nächstgelegenen Porträt sah ein beleibter, älterer Zauberer auf sie herab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, den Ausdruck eines Mannes im Gesicht, der dringend nach einer Abwechslung suchte. „Nur Hausaufgaben, Professor Hartwell,“ sagte Khepri höflich.
„Hausaufgaben, pah! Ich habe gehört, Sie treiben sich in letzter Zeit mit Mr. Flint herum.“ Khepri blinzelte. „Bitte was?“ „Marcus Flint,“ fuhr das Porträt fort, das nun sichtlich Gefallen an der Aufmerksamkeit fand. „Ich habe gesehen, wie Sie gestern mit ihm beim Abendessen sprachen. Ziemlich angeregt, wenn ich das sagen darf. Es heißt, Sie haben ihn zum Lächeln gebracht.“ „Er hat mich angeschrien!“, protestierte Khepri.  „Aha!“ Hartwell grinste breit. „So viel junge Emotion. Lächeln, anschreien - das ist doch bei jungen Paaren heutzutage fast das Gleiche.“ “Wir sind kein Paar-”, setzte Khepri an, doch weitere Stimmen mischten sich ein.
“Seht mal, wie sie errötet! Wie entzückend!” Ein Kichern ging durch den Flur. Weitere Porträts waren herbeigeeilt – eine Dame in einem grünen Samtgewand, ein Ritter in rostiger Rüstung, sogar ein paar Schülerporträts aus einer anderen Epoche.
„Sie hat also mit Flint geflirtet?“ „Unglaublich, diese jungen Leute!“ „Man sagt, sie hätte ihm einen Zaubertrank gebracht!“
„Einen Liebestrank?“ Khepris Wangen brannten. „Das ist nicht wahr!“ protestierte sie. „Ich habe ihm nur gesagt, dass Frauen genauso gut Quidditch spielen können!“ „Oh, sie verteidigt ihn!“ rief der Ritter empört. „Wie romantisch!“ seufzte die Dame.
„Das ist doch… das ist lächerlich!“ keuchte Khepri und stapfte weiter, das Gesicht tiefrot. Doch sie wusste: Zu spät. Wenn die Porträts einmal etwas gehört hatten, würde es sich bis zum Frühstück in ganz Hogwarts herumgesprochen haben.
Und tatsächlich – am nächsten Morgen, im Gemeinschaftsraum, wartete Marcus schon. Arme verschränkt, Stirn gerunzelt, ein Ausdruck irgendwo zwischen Spott und Genervtheit. „Also, Khairy,“ begann er, „was soll das?“ „Was soll was?“ „Dass halb Hogwarts glaubt, du hättest mir einen Liebestrank gebraut.“ „Ich- was? Ich hab gar nichts-“ „Na sicher. Vielleicht sollten wir den nächsten Klatsch gleich selbst schreiben, hm?“ Khepri stemmte die Hände in die Hüften. „Ich habe gar nichts gesagt, Marcus! Die Porträts haben das einfach erfunden! Außerdem weißt du selbst ziemlich gut, dass ich gar keinen vernünftigen Liebestrank brauen könnte, selbst wenn ich wollte!“ „Dann musst du sehr lebhaft geschwiegen haben. Porträts reden nicht einfach so.“ „Deine Miene offenbar auch nicht.“ „Wie bitte?“ „Vielleicht haben sie dein Grinsen falsch interpretiert.“ Er sah sie einen Moment lang an, dann schnaubte er. „Ich grinse nicht.“ „Doch, tust du. Wenn du glaubst, niemand sieht’s.“ „Dann siehst du wohl zu oft hin.“
Sie starrten sich an: Der Streit hatte sich längst in etwas anderes verwandelt, etwas Aufgeladenes, das beide nicht benennen wollten. Schließlich drehte Marcus sich abrupt um und ging. „Und für’s Protokoll,“ rief Khepri ihm hinterher, „ich würde nie einen Liebestrank brauen!“ „Wäre wohl das Einzige, was bei mir nicht wirkt,“ kam seine Stimme trocken zurück.
Liliana, die das ganze Spektakel verfolgt hatte, lehnte sich zu ihr. „Er flirtet mit dir.“ „Er ist unerträglich.“
„Beides kann stimmen.“
In der Nacht kehrte sie zurück. Nur das Licht ihrer Zauberstabspitze und das entfernte Tropfen des Wassers in den Gängen begleiteten sie. „Lumos Minora,“ flüsterte sie, und der schwache Schein fiel auf die alten Gemälde. Professor Hartwell schnarchte friedlich in seinem Rahmen. Khepri zog den Zauberstab. „Silentia serena.“ Ein feiner, blauer Schimmer legte sich über die Leinwände. Die Figuren darin verharrten – die Münder offen, die Augen stumm. Zum ersten Mal seit Tagen war der Flur still.
Und die Nacht blieb auch still. Nur das schwache, grünlich schimmernde Licht, das durch die Unterwasserfenster fiel, zeichnete zitternde Muster an die Decke.

Khepri lag wach. Der zerbrochene Spiegel lag in ihrer Schublade, sorgfältig in Stoff gewickelt, doch sie konnte sein Flimmern noch spüren – als hätte der Zauber sich in ihre Haut gebrannt. Liliana atmete ruhig in ihrem Bett auf der anderen Seite des Raumes.
Alles war friedlich. Zu friedlich.
Khepri setzte sich auf, zog die Decke um die Schultern und ging leise zum Fenster. Das Glas war kühl, ihre Finger hinterließen kurzsichtige Spuren im Kondenswasser. Sie sah hinaus in die Dunkelheit des Sees. Schwache Schatten glitten dort unten vorbei. Fische, vielleicht. Oder etwas anderes. Der Krake? Etwas, das sich zu bewegen schien, wenn sie nicht hinsah. Dann - ein Flüstern.
„Ich rieche dich…“
Khepri fuhr herum. Niemand. Nur das leise Tropfen irgendwo hinter den Betten. Sie presste die Hand auf das Amulett unter ihrem Nachthemd. Es war warm. Zu warm.
„Blut… ruft Blut…“
Ihr Herz pochte laut, ihr Atem ging flach. Die Stimme war nicht in ihrem Kopf – sie kam von überall. Aus den Wänden. Aus dem Wasser. Und für einen Moment war sie sich sicher, dass sich das Glas vor ihr ganz leicht wölbte. Als atmete der See.
Khepri wich einen Schritt zurück, stieß an ihr Bett. Das Flüstern verstummte abrupt.
Sie wagte es kaum, zu blinzeln. Dann fiel ihr Blick auf die kleine Handspiegelung im Fensterglas – ihr eigenes Gesicht. Nur… es bewegte sich nicht.
Ihr Spiegelbild sah sie an, starr, still, während sie selbst langsam die Hand hob. Und erst, als sie schon dachte, sie würde den Verstand verlieren, hob es die Hand - einen Herzschlag zu spät. Ein kaum hörbares Zischen glitt durch den Raum, langgezogen, sacht wie Seide.
„Erbe…“
Dann war es still. Nur ihr Puls, der in den Ohren rauschte, und das gleichmäßige Glucksen des Sees über ihr. Khepri schloss die Augen und legte sich wieder hin. Sie wusste nicht, ob sie das alles geträumt hatte. Aber als sie das Amulett berührte, fühlte sie, dass es wieder kalt war, eiskalt wie Wasser in der Tiefe.
Und irgendwo weit unter ihr, im Herz des Schlosses, bewegte sich etwas.

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