Aus den Aufzeichnungen von Khepri Khairy - 15. November 1992
Ich wollte eigentlich nur nachsehen, ob ich etwas über ägyptische Runensysteme finde, aber irgendwie bin ich im falschen Regal gelandet. Alte Familienchroniken, verstaubt, manche kaum lesbar. Ich hätte sie wahrscheinlich sofort wieder zurückgestellt, wenn mir das Foto nicht aufgefallen wäre.
Es war in einem zerfledderten Band über Zaubererfamilien des frühen 20. Jahrhunderts, und das Pergament war so dünn, dass man fast hindurchsehen konnte.
Das Bild zeigte eine Gruppe von Menschen - ein älterer Mann, eine junge Frau und ein zweiter Mann. Keiner von ihnen hätte mir bekannt vorkommen dürfen, immerhin waren sie alle drei bereits verstorben oder uralt.
Doch der jüngere Mann… Ich habe ihn schon einmal gesehen. Nicht hier, nicht in echt, natürlich nicht, aber irgendwo. Sein Gesicht, seine Augen, dieser Ausdruck - kalt und brennend zugleich. Ich kann es nicht erklären, aber ich weiß, dass ich ihn kenne.
Vielleicht aus einem Traum? Ich erinnere mich verschwommen daran, von einem solchen Mann geträumt zu haben, aber es will mir nicht mehr richtig in den Kopf kommen.
Ich habe versucht, etwas über ihn herauszufinden, aber der Name unter dem Bild war halb verblasst. Nur die letzten Buchstaben waren noch lesbar: “…in G.”
Ich hätte schwören können, dass das Amulett in dem Moment leicht gezuckt hat, als ich das Bild berührt habe. Vielleicht war’s nur Zufall, aber ich weiß nicht, ob ich noch an Zufälle glaube.
Vielleicht sollte ich Percy davon erzählen. Ich bin mir nicht sicher.
Khepri hatte gerade ihr Toastbrot auf dem Weg zum Unterricht in den Mund geschoben, als ein lautes Zischen und ein empörter Schrei durch die große Halle hallten. Ein dichter, grünlich-grauer Rauch quoll die Gryffindor-Tafel entlang, und mitten darin sah sie zwei vertraute Köpfe – rot vom Husten, aber unverkennbar: Aaron und Maralen. „Oh nein,“ murmelte Khepri, „das sind meine.“
Professor McGonagall trat aus der Rauchwolke hervor, den Zauberstab erhoben und ihre Brille mit Ruß bedeckt. „Wer…“ hustete sie, „WER hat diesen Unsinn verursacht?“ Aaron hob zögernd die Hand. „Technisch gesehen… wir beide.“ „Aber nur, um-“ begann Maralen, doch McGonagall hob warnend die Hand. „Sie zwei – und Miss Khairy,“ sie deutete auf Khepri, „in mein Büro. Sofort.“ Khepri seufzte, legte ihr Toast zurück und murmelte zu Liliana: „Sag Snape, ich bin… leicht aufgehalten.“ Liliana grinste. „Ich bring Blumen, falls du’s nicht überlebst.“
McGonagalls Büro roch nach Pergament und kaltem Tee. Aaron und Maralen saßen nebeneinander wie zwei Katzen, die genau wussten, dass sie Mist gebaut hatten, und Khepri stand daneben mit verschränkten Armen.
„Nun?“ fragte McGonagall streng. „Wollen Sie mir erklären, was genau diese Explosion ausgelöst hat?“ Aaron räusperte sich. „Wir wollten nur helfen.“ „Ah, Hilfe. Natürlich. Und wie genau hilft ein Stinkbomben-Zauber in der großen Halle?“
„Es war kein Stinkbomben-Zauber!“ warf Maralen dazwischen. „Wir haben versucht, Sir Cadogan davon abzuhalten, Erstklässler zu ärgern! Er hat sie nicht durchgelassen und-“
„Und ihr dachtet, Rauch wäre eine gute Lösung?“ Aaron grinste leicht. „Technisch gesehen hat’s funktioniert. Er ist abgehauen.“ McGonagall presste die Lippen zusammen. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich beeindruckt oder beunruhigt sein sollte.“ „Eher Letzteres,“ murmelte Khepri. McGonagall sah sie über den Brillenrand hinweg an. „Miss Khairy, Sie scheinen mir Erfahrung im Umgang mit Ihren Geschwistern zu haben. Vielleicht gelingt es Ihnen, sie künftig von solchen Ideen abzuhalten.“ „Ich geb mein Bestes,“ sagte Khepri trocken.
Als sie das Büro verließen, stieß Aaron seine Schwester leicht an. „Also mal ehrlich, wir waren nicht so schlimm, oder?“ „Ihr habt fast die gesamte große Halle verraucht.“ „Aber niemand wurde verletzt.“ „Noch nicht,“ erwiderte Khepri, aber ihr Mundwinkel zuckte.
Maralen grinste. „Du bist stolz auf uns.“ „Ich bin entsetzt.“ „Das ist dein Stolz, der sich schämt.“
Die Bibliothek war an diesem Nachmittag ungewöhnlich leer. Nur das leise Kratzen von Federn und das Umblättern von Seiten durchzog die Luft. Khepri hatte gerade das Kapitel über Runenmarken zu Ende gelesen, als sie das vertraute Murmeln zweier Stimmen hörte – eine tief, eine hell, beide eindeutig genervt. „Ich musste ihn retten!“, zischte Maralen. „Vor was? Von seiner eigenen Dummheit?“ „Vor dir, Aaron!“ Khepri seufzte, steckte das Lesezeichen zwischen die Seiten und sah zur Tür. Ihre Geschwister standen da, wild gestikulierend, Schulhemden zerknittert, Blicke trotzig wie kleine Flammen.
„Ihr zwei habt wirklich ein Talent dafür, den Tag interessanter zu machen,“ sagte sie und verschränkte die Arme. Aaron grinste. „Das ist unsere Aufgabe. Familienstolz und so.“ „Ich dachte, der Familienstolz wäre, nicht jede Woche Ärger zu kriegen.“ „Dann lebst du in einer anderen Familie,“ meinte Maralen trocken.
Hinter ihnen trat Shukran aus dem Schatten eines Bücherregals. Er sah müde aus – Augenringe, Schultern leicht nach vorne gezogen, aber sein Lächeln, als er Khepri sah, war echt. „Ich hab gehört, meine kleinen Helden haben halb Hogwarts eingenebelt.“ Aaron strahlte. „Du hast’s mitbekommen?“ „Jeder hat’s mitbekommen,“ sagte Shukran, „sogar die Kobolde in Gringotts wahrscheinlich.“ Maralen grinste, während Khepri spürte, wie sich ihr Inneres entspannte. Für einen kurzen Moment war es, als säßen sie alle wieder zu Hause im Salon des Anwesens - Aaron mit Schrammen, Maralen mit Ideen, Shukran mit Gelassenheit.
„Ich hab was für dich,“ sagte Khepri leise und zog aus ihrer Tasche eine kleine Pergamentrolle. „Ein neues Symbol. Ich glaube, ich weiß jetzt, warum der Spiegel nicht funktioniert hat.“ Shukran hob eine Augenbraue. „Wirklich?“ „Vielleicht. Aber du musst mir Zeit geben. Ich glaube, es braucht etwas… Persönlicheres.“ „Wie…?“ „Gefühle, Erinnerungen. So was wie Magie durch Bindung.“
Er lächelte müde. „Klingt nach was, das du kannst, ich aber nicht.“ „Das sagst du, weil du sentimental bist,“ neckte Aaron. „Nein,“ mischte sich Maralen ein, „weil er verliebt ist.“ „Ohhh,“ sang Aaron, „Maya!“ Shukran rollte die Augen, aber ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ich vermiss sie,“ gab er zu. „Ich weiß,“ sagte Khepri leise. „Ich arbeite dran, Shuk. Ich verspreche es.“ Er nickte. „Ich weiß, Khepri. Aber versprich mir, dass du dich dabei nicht verlierst, ja?“
Einen Moment lang sah sie ihn an – dieselben goldenen Augen, dasselbe ruhige Wesen. Zwillingsseelen, durch ein Geheimnis getrennt, das keiner von ihnen kannte. „Ich kann mich gar nicht verlieren,“ sagte sie schließlich mit einem schwachen Lächeln. „Ich hab ja euch.“
Aaron legte den Arm um Maralen. „Und wir sind bereit, jederzeit wieder das Schloss in Rauch zu legen, um’s zu beweisen.“ „Ich weiß,“ erwiderte Khepri trocken, „und genau das ist das Problem.“
Als Khepri die Bibliothek das nächste Mal betrat prasselte der Regen leise gegen die Fenster. Sie hatte sich vorgenommen, Percy nur kurz zu suchen – eine einfache Frage zu einem Trankrezept, das sie ohnehin schon fast verstanden hatte. Aber wie so oft führte ihr Weg nicht zum Wissen, sondern zu einem Bild, das sie kurz innehalten ließ. Percy saß am langen Tisch bei den Fenstern, Pergamente ordentlich aufgereiht, Feder exakt im rechten Winkel abgelegt. Daneben Penelope Clearwater – Kopf geneigt, Stirn in Falten, Lippen leicht gespitzt, während sie etwas auf seinem Notizzettel markierte.
Beide beugten sich über denselben Absatz, so dicht, dass ihre Schultern sich berührten. Das Licht des Regens spiegelte sich auf dem Pergament. Khepri blieb stehen.
„Ich schwöre dir, das war gestern noch richtig,“ sagte Percy, der sie nicht bemerkt hatte. „Und ich schwöre dir,“ erwiderte Penelope geduldig, „dass du dich verrechnet hast. Schau hier, der Faktor für Mondphasen. Der verändert alles.“ Percy runzelte die Stirn. „Das ergibt keinen Sinn.“ „Doch,“ sagte Penelope und lächelte. „Wenn du mal aufhörst zu diskutieren, schon.“ Khepri konnte nicht anders, sie grinste. Das war so Percy - und Penelope hatte offensichtlich genau das richtige Gegengewicht.
„Khepri!“ Percy hob den Kopf und winkte sie heran. „Komm, das musst du sehen! Penelope hat gerade mein gesamtes Arithmantik-System zerlegt.“ „Zu Recht,“ meinte Penelope, schob Percy zur Seite und klopfte neben sich auf die Bank. „Setz dich. Du bist also Khepri, ja?“ „Ja,“ sagte sie und nahm Platz. „Ich hab viel von dir gehört.“ „Nur Gutes, hoffentlich.“ „Das meiste.“
Penelope lachte leise - ein glockenhelles, selbstsicheres Lachen. Sie war anders, als Khepri erwartet hatte. Keine steife, unnahbare Ravenclaw, sondern ruhig, offen, mit dieser Art von Intelligenz, die niemanden klein machen musste. „Percy sagt, ihr kennt euch schon ewig,“ begann Penelope. „Seit der dritten Klasse,“ bestätigte Khepri. „Wir haben uns in der Bibliothek kennengelernt. Überraschung.“ Percy schnaubte. „Ich erinnere mich, dass du damals über Runen geflucht hast.“ „Und du über meine Notizen.“ „Zurecht! Deine Buchstaben sahen aus, als würdest du mit dem Zauberstab tanzen.“ Penelope grinste. „Klingt, als wart ihr euch ähnlich.“ Khepri nickte. „Mehr, als uns lieb war.“
Einen Moment lang herrschte Stille, aber keine unangenehme. Nur das Rascheln der Seiten und das sanfte Tropfen des Regens. Khepri betrachtete die beiden. Percy beugte sich wieder über sein Pergament, murmelte Zahlen, während Penelope geduldig daneben saß, ihm erklärte, wie sie seine Formeln umstellen würde. Es war… harmonisch.
Sie saß nicht mehr auf ihrem Platz neben Percy, aber das hier war trotzdem einer, den sie mochte.
„Ich bin froh, dass er dich hat,“ sagte Khepri plötzlich, ohne Zusammenhang. Penelope sah sie überrascht an. „Was?“ „Ich weiß, wie er ist. Wie viel er denkt. Wie schwer er sich tut, zu entspannen. Du tust ihm gut.“ Penelope lächelte, und es war kein überhebliches, sondern ein echtes Lächeln. „Danke,“ sagte sie leise. „Ich glaube, er weiß das noch gar nicht.“ „Dann sag’s ihm,“ antwortete Khepri. „Er hört sonst nie auf jemanden.“ „Außer auf dich?“ Khepri schüttelte den Kopf. „Schon lange nicht mehr. Aber das ist okay.“ Sie stand auf, griff nach ihrem Buch und wollte gerade gehen, als Percy sie noch einmal aufhielt. „Khepri?“ „Hm?“ „Danke fürs Vorstellen. Ich glaube, ihr versteht euch.“
„Das glaube ich auch,“ sagte sie und lächelte, bevor sie in Richtung Ausgang verschwand. Draußen hatte der Regen aufgehört. Sie wurde fast etwas melancholisch, als sie überlegte, was die aufkeimende Beziehung wohl für ihre eigene Beziehung zu Percy bedeuten würde.
Der Weg zu Hagrids Hütte war matschig und vom Regen aufgeweicht. Aaron sprang mit Absicht in jede Pfütze, Maralen schimpfte jedes Mal, und Khepri fragte sich, ob sie mit den beiden jemals einen Spaziergang ohne Flüche, nasse Schuhe oder Chaos erleben würde. „Wetten, er hat wieder irgendwas im Haus, das beißt?“ murmelte Aaron, als sie den kleinen Garten erreichten. „Wetten, es beißt dich zuerst?“ konterte Maralen. Khepri klopfte an die Tür. Von innen ertönte ein dumpfer Schlag, ein polterndes „Moment!“ und dann öffnete sich die Tür mit einem Ruck.
„Aaron und Maralen! Und Khepri auch, das ist ja eine Ewigkeit her, dass ich dich gesehen habe, Kind.!“, rief Hagrid und strahlte über das ganze Gesicht, bevor er sich wieder den Zwillingen zuwandte. „Hab gehört, ihr habt die halbe Schule verraucht!“ Aaron grinste stolz. „Das war Forschung.“ „Ha! Forschung! So hab ich’s bei mir früher auch genannt.“ Er ließ sie eintreten. Die Hütte roch nach Holz, Tee und nassem Hund. Es war eng wie immer, aber sie quetschten sich alle drei auf einen riesigen Sessel in der offenen Stube. Fang schnüffelte an Aarons Schuhen und legte sich dann mit einem zufriedenen Stöhnen in die Ecke. Auf dem Tisch stand ein riesiger Korb mit etwas, das aussah wie verkohlte Würstchen. „Hab noch was gebacken,“ sagte Hagrid, „aber nich ganz so, wie’s sollte.“ Maralen betrachtete das schwarze Etwas. „Was war’s, bevor es gebacken wurde?“ „Haferkekse,“ meinte Hagrid stolz. „Gut für die Zähne. Macht sie hart.“ „Ja,“ murmelte Aaron, „oder bricht sie gleich komplett raus.“ Khepri lächelte, nahm aber höflich einen. Er schmeckte nach Asche und Mutprobe.
„Also,“ begann Hagrid, während er einen Krug Tee einschenkte, „was führt euch her? Noch ’ne Rauchbombe?“ „Wir wollten eigentlich die Zutat zurückbringen,“ erklärte Khepri und legte ein kleines Fläschchen mit pulverisiertem Schwefel auf den Tisch. „Ich glaube, die hat Aaron versehentlich… mitgenommen.“ „Ich wollte’s nur zeigen!“, verteidigte sich Aaron. Hagrid lachte. „Kein Schaden. Das Zeug war sowieso alt. Aber passt auf, wo ihr’s verwendet - Schwefel zieht manche Viecher an.“ „Welche Viecher?“ fragte Maralen neugierig.
Hagrid räusperte sich. „Na ja… sagen wir mal, Dinge, die besser unter der Erde bleiben.“
Khepri hob den Blick. „Unter der Erde?“ „Aye. Hab in letzter Zeit komische Geräusche gehört. So was wie… Kratzen. Oder ein tiefes Rutschen, da draußen im Wald. Dachte erst, es wär’n Dachs, aber…“ Er schüttelte den Kopf. „Dachse sprechen keine Sprache, die sich anhört wie’n Flüstern, oder?“ Aaron und Maralen starrten ihn mit großen Augen an.
„Ein Flüstern?“ fragte Khepri ruhig. „Wahrscheinlich nix,“ winkte Hagrid ab, „der Wind, oder Wasser unter’m Boden. Aber…“ Er sah sie prüfend an. „Wenn ihr nachts was hört, geht nich gucken, ja? Manchmal is das Schloss lebendiger, als einem lieb is.“ „Versprochen,“ sagte Khepri. Er nickte zufrieden und reichte ihnen noch mehr Tee, als wolle er das Thema wegspülen.
Als sie sich verabschiedeten und Hagrid ihnen nachwinkte zog sich über dem Verbotenen Wald ein breiter, dunkler Wolkenstreifen zusammen. Aaron hüpfte voran, sprang über Wurzeln, während Maralen versuchte, ihre Schuhe aus dem Matsch zu ziehen.
„Ich wette, das war kein Dachs,“ rief Aaron, halb lachend, halb neugierig. „Hast du gehört, wie das geklungen hat?“ „Was?“ fragte Maralen. „Na, dieses-“ Er stoppte abrupt, legte den Kopf leicht schräg und runzelte die Stirn. Dann machte er ein leises, zischendes Geräusch.
Khepri gefror das Blut in den Adern, als sie dieses Geräusch erkannte. Es war kein normales Zischen. Die Laute kamen fließend, rhythmisch – Worte. Die gleiche Art von Worten, wie sie sich ständig einzureden versuchte, dass sie sie sich einbildete. Aus dem Mund ihres Bruders. Sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog.
„Aaron?“ sagte sie leise. Er zuckte zusammen, als hätte er selbst erst in dem Moment realisiert, was er getan hatte. „Was?“ „Was hast du gerade gesagt?“ „Ich… weiß nicht. Ich dachte, ich hör was. So’n Flüstern. Wie im Wind. Und dann…“ Er brach ab, sah sie an, ein bisschen verunsichert, ein bisschen trotzig.
Khepri trat näher. „Du hast es gehört?“ Er nickte. „Ja. Ganz leise. Irgendwas von... 'Kommen' oder so. Warum?“ Sie atmete tief durch. Das Amulett unter ihrem Mantel war eiskalt. „Weil ich’s auch gehört habe,“ sagte sie leise.
Maralen sah verwirrt zwischen ihnen hin und her. „Ihr zwei spinnt doch. Niemand hat irgendwas gesagt. Ich habe überhaupt nichts gehört.“ Aber Aaron und Khepri starrten einander an, und für einen Moment war zwischen ihnen eine Verbindung, die nichts mit Geschwisterschaft zu tun hatte. „Khepri?“ fragte Aaron leise. „Sag niemandem was,“ flüsterte sie. „Noch nicht.“
Er nickte, zögernd, und sie gingen weiter. Über ihnen zog der Wind durch die Bäume, und irgendwo in der Ferne zischte es erneut – kaum hörbar, aber eindeutig:
„Erben…“
Khepri ging allein über den Innenhof, blinzelte der Sonne entgegen, die jetzt, wo sich das Jahr schneller und schneller dem Ende zu neigte, immer seltener ihr schönes Gesicht zeigte. Khepri war ein Sommerkind, das Wärme und Sonnenstrahlen liebte. Wäre ihre Uroma nicht nach England ausgearndert, als ihr Opa Theremin noch ein Baby war, sondern in Ägypten geblieben, wäre Khepri heute auch nicht böse darum. Ägypten war ganz sicher einfach wunderbar. In England regnete es ständig. Und selbst hier war gerade erst der letzte Schauer vorbei gegangen.
Khepris Schritte hallten dumpf auf den nassen Steinen, und sie hielt die Arme fest um sich geschlungen. Das Amulett unter ihrer Bluse fühlte sich an, als hätte es ein eigenes Herz. Seit Aaron vorhin gezischt hatte war es nicht mehr still. Es vibrierte unmerklich, wie ein Atemzug, den nur sie spüren konnte. Sie hatte die ganze Zeit darüber nachgedacht: Sollte sie es Percy sagen? Oder Snape? Aber nein. Niemand durfte davon wissen. Noch nicht.
Nicht, wenn sie selbst nicht verstand, was das bedeutete. Als sie an den Gewächshäusern vorbeikam, hörte sie eine Stimme, warm und freundlich, gedämpft von einer dicken Glasscheibe: „Miss Khairy? Alles in Ordnung, meine Liebe?“
Professor Sprout stand mitten im Treibhaus, eine Schaufel in der Hand, die Schürze voller Erde, und lächelte, als hätte sie Khepris Gedanken erraten. Khepri zögerte. „Ich wollte nicht stören.“ „Tun Sie nie,“ erwiderte Sprout. „Und Sie sehen aus, als könnten Sie einen Moment frische Luft gebrauchen. Oder vielleicht einen Topf Erde, in den Sie Ihre Sorgen stecken können.“ Khepri lachte schwach und trat ein. Der Duft von feuchtem Boden und warmen Kräutern legte sich wie eine Decke um sie. Sie ließ die Finger über eine Reihe junger Alraunenblätter gleiten. „Ich… mache mir Sorgen um Shukran,“ sagte sie schließlich, als ihr aufging, dass es ihm sicher nicht schaden würde, wenn sie sich seiner Hauslehrerin anvertraute. Shukran baute immerhin mehr und mehr ab. „Er schläft kaum noch, und er wirkt so... müde. Nicht körperlich, sondern als würde er die Welt ein Stück weiter von sich wegschieben.“ Professor Sprout stellte ihre Schaufel ab und musterte sie mit mildem Ernst. „Ich hab’s auch bemerkt. Er war letzte Woche bei mir. Seine Arbeiten sind korrekt, aber leer. Ohne Freude.“ Khepri nickte. „Das trifft’s genau.“
„Haben Sie miteinander gesprochen?“ „Nicht richtig.“ „Dann sollten Sie das.“ Sprout beugte sich über einen Topf, in dem kleine, blaugrüne Triebe wuchsen. „Er ist nicht der Erste, der sich in Hogwarts verliert. Aber er hat das Glück, dass er eine Schwester hat, die ihm folgen würde, wenn er fällt.“ Khepri sah sie überrascht an. Sprout lächelte sanft. „Ich kenne die Magie einer Familie, Miss Khairy. Und ich kenne Geschwister. Sie müssen lernen, dass Sorge manchmal nur eine andere Form von Vertrauen ist.“
Khepri schwieg einen Moment. Ihre Hände zitterten leicht, als sie über den feuchten Rand des Pflanzentisches strich. „Und wenn es etwas gibt, das ich ihm nicht sagen kann?“ Sprout hob den Blick. „Dann behalten Sie es für sich, bis Sie sicher sind, dass er’s ertragen kann. Aber versprechen Sie mir, es nicht zu lange allein zu tragen.“ Ein leises Schmatzen ertönte, als eine der Alraunen im Topf sich bewegte. Khepri lächelte schwach. „Ich verspreche es.“
Sprout nickte, zufrieden. „Gut. Und jetzt gehen Sie schlafen, bevor die Sonne Sie morgen noch beim Gähnen erwischt.“ Khepri trat wieder hinaus in den Hof.
Die Luft war kühl, klar, und über den Zinnen hing der Nebel wie ein schwerer Schleier. Sie blieb stehen, legte eine Hand über das Amulett und flüsterte kaum hörbar: „Was willst du von uns?”
Der Slytherin-Gemeinschaftsraum war in warmes, grünliches Licht getaucht. Draußen klatschte - mal wieder - der Regen gegen die Fenster, und das Kaminfeuer warf flackernde Schatten über die Steinwände. Was Khepri doch nicht alles für besseres Wetter geben würde, aber zugegeben, hier drin war es schon gemütlich. Sie saß mit angezogenen Beinen auf einem der tiefen Sofas. Liliana hatte sich quer über die Sitzfläche gelegt, den Kopf auf ihrem Schoß, und las „Hexische Herzen und andere Tragödien“. Am Tisch daneben diskutierten Marcus und Adrian lautstark über Quidditchaufstellungen, während im Hintergrund zwei Erstklässler kichernd versuchten, heimlich Süßigkeiten zu verzaubern. Es war einer dieser seltenen Abende, an denen Hogwarts fast normal wirkte. Aaron und Maralen hatten ihr versprochen, „heute nichts anzuzünden“ - ein Versprechen, das sie nur mäßig glaubte. Shukran war früh ins Bett gegangen. Und Khepri selbst versuchte, nicht zu denken.
Sie ließ die Finger über das Amulett gleiten, das unter ihrer Bluse ruhte. Seit Tagen war es ruhig. Kein Summen, kein Flüstern – als hätte es geschlafen. Aber seit dem Moment mit Aaron, seit diesem einen Blick, war in ihr etwas wach. Das, was in ihr und Aaron sprach, war kein Zufall, das konnte einfach keiner sein. Sie sammelte Puzzleteile, aber das Puzzle schien sich nur selbstständig zu erweitern, je mehr sie fand.
„Du bist heute so still,“ murmelte Liliana, ohne den Blick vom Buch zu heben. „Nur müde.“ „Oder denkst du wieder über Flint nach?“
Khepri schnaubte belustigt. „Wenn ich über Flint nachdenke, dann nur, wie ich ihn aus einem Fenster hexen könnte.“ Liliana grinste. „Das nenn ich Leidenschaft.“ Khepri erwiderte ein leises Lachen, aber ihr Blick blieb am Feuer hängen.
Die Flammen zuckten träge, bis plötzlich ein einzelner Funke in die Luft stieg. Er schwebte nicht wie gewöhnlich, sondern blieb mitten im Raum hängen - glimmend, grünlich, als wäre er aus Metall statt Licht. Khepri richtete sich auf. „Liliana?“, flüsterte sie. „Hm?“ „Siehst du das?“ Liliana sah auf und runzelte die Stirn. „Was?“ Doch der Funke war schon verschwunden.
Khepri beugte sich vor. Das Feuer knackte leise, als wollte es etwas sagen. Ein Windzug huschte durch den Raum, ließ die Kerzen flackern und wischte auch noch die allerletzte Spur des Funken aus der Luft. „Khepri?“ Liliana setzte sich auf. „Alles gut?“ „Ja,“ sagte sie. Ihre Stimme war ruhig und ungebrochen, obwohl sie innen drin aufgewühlt war, weil sie immer neue Rätsel fand und auf noch keines eine Antwort hatte. „Alles gut.“ Sie stand auf, ging zu ihrem Schlafsaal und blieb in der Tür einen Moment stehen. Der Gemeinschaftsraum war wieder still, das Feuer harmlos, das Licht warm.
Könnte es doch nur immer so friedlich sein.
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