Kapitel 5 - Khairy Manor

Veröffentlicht am 24. November 2025 um 17:29

Aus den Aufzeichnungen von Khepri Khairy - 18. Dezember 1992
Ich glaube, je mehr ich über das Amulett nachdenke, desto weniger verstehe ich es.
Es ist, als hätte ich einen Faden gefunden, der in alle Richtungen führt – und egal, welche ich verfolge, ich lande immer wieder bei uns. Bei den Khairys.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass unsere Familie mehr Geschichten hat, als sie selbst kennt. Wir reden kaum über früher. Über Ägypten. Über Großvater Teremun, oder über Oma Khepri, bevor sie hierherkam. Ich weiß nicht, ob das Schweigen Zufall ist – oder Absicht.
Aber das Amulett... es gehört zu ihr. Ich bin mir sicher. Und vielleicht auch sie zu ihm.
Also habe ich beschlossen, sie zu fragen. Nicht so zwischen Tür und Tee, sondern wirklich.
Ich will wissen, ob sie weiß, warum es auf mich reagiert, und warum ich Dinge fühle, die nicht mir gehören. Vielleicht denkt sie, ich bilde mir das ein. Vielleicht weiß sie mehr, als sie sagt.
Ich habe Angst, ehrlich gesagt. Nicht davor, was sie erzählt – sondern davor, dass sie gar nichts erzählt. Dass sie mich nur ansieht mit diesem Blick, den Erwachsene haben, wenn sie glauben, man sei noch zu jung, um die Wahrheit zu verstehen.
Aber ich bin alt genug. Und wenn das Amulett Teil unserer Geschichte ist, will ich wissen, was es mir sagen will, bevor es jemand anderes tut.


„Die Runen sind mehr als bloße Buchstaben,“ sagte Professor Babbling und klopfte energisch auf den alten Pergamentstapel auf ihrem Pult. „Sie sind Bedeutungen, Gedanken, geritzt in Stein. Und manche Gedanken schlafen nie.“ Ein leises Rascheln ging durch die Klasse.
Khepri, Percy und Liliana saßen wie immer in der zweiten Reihe; Percy mit perfektem Federstrich, Liliana halb interessiert, halb gelangweilt, Khepri irgendwo dazwischen – zu müde für Begeisterung, zu neugierig, um sich zu entziehen.
Auf dem Tisch vor ihnen lag ein flacher, grauer Stein, kaum größer als eine Handfläche. Darauf: eingravierte Zeichen, alt und beinahe verwischt. „Diese Rune,“ fuhr Babbling fort, „wurde in den 1880er-Jahren in Ägypten gefunden. Von einem Grabräuber, der angeblich beim Versuch, sie zu verkaufen, verschwunden ist.“ „Erfrischend,“ murmelte Liliana. „Wird das eine Geschichtsstunde oder eine Warnung?“ fragte Khepri leise. Percy beugte sich zu ihnen. „Beides.“
Professor Babbling teilte die Klasse in Dreiergruppen ein, jede sollte den Stein untersuchen, seine Bedeutung erschließen und ihn – falls möglich – magisch aktivieren. „Aber vorsichtig!“
Ihr Blick blieb unübersehbar lange an Khepri hängen.
Sie arbeiteten schweigend. Percy schrieb Runenstriche ins Heft, Liliana drehte den Stein hin und her, Khepri beugte sich so tief über das Artefakt, dass sich ihr Spiegelbild im grauen Schimmer des Gesteins verzerrte.
„Das sieht aus wie…“ - sie runzelte die Stirn - „eine Variante von Hagalaz, aber das hier…“
„Das ist kein nordischer Ursprung,“ unterbrach Percy. „Siehst du das hier?” Er fuhr die Rune mit dem Finger nach. „Die Linien im Zentrum sind ägyptisch. Wie das Symbol der Schlangengöttin Wadjet.“
Khepri hob den Blick. „Wadjet steht für Schutz.“ „Oder für Rache,“ meinte Liliana. „Kommt drauf an, wer fragt.“ Percy grinste schief. „Dann wollen wir hoffen, dass der Stein uns wohlgesonnen ist.“ Khepri zog den Zauberstab. „Nur ein einfacher Aktivierungszauber. Lux revelare.“
Sie sprach die Worte ruhig, präzise – und der Stein begann zu zittern.
Ein kaum hörbares Summen vibrierte durch den Tisch. Die Runen glommen auf, zuerst weiß, dann gelb, dann ein unnatürliches Grün. „Khepri,“ sagte Percy war­nend, „das sieht nicht gut aus.“ „Ich weiß,“ flüsterte sie.
Das Licht wurde heller. Ein Windstoß fuhr durch den Raum, als öffnete sich eine unsichtbare Tür. Bücher fielen aus den Regalen, Federn rollten über den Boden, Schüler riefen durcheinander. Dann - ein Riss. Ein greller, zischender Laut, wie wenn Metall in Stein schneidet.
Khepri spürte, wie sich ihr Amulett aufheizte. Sie griff instinktiv danach – und in dem Moment breitete sich von ihrer Brust aus ein goldgrüner Lichtbogen aus, fließend wie Wasser, stark wie Glas. Das Artefakt zersplitterte. Die Druckwelle schmetterte Percy gegen den Tisch, Liliana riss es vom Stuhl – doch der Lichtbogen hielt. Er legte sich wie ein schützender Schleier über sie, absorbierte das Chaos, bis der Raum wieder still wurde.
Khepri keuchte, die Hände zitterten. Ihr Amulett glühte noch kurz, dann erlosch es. Professor Babbling stand im Türrahmen, bleich, mit offenem Mund. „Miss Khairy,“ sagte sie schließlich, leise, aber fest, „was war das?“ Khepri versuchte, eine Antwort zu finden, aber Percy kam ihr zuvor. „Ein Schutzzauber,“ sagte er hastig. „Reine Reaktion. Vielleicht vom Artefakt selbst.“
Babbling schüttelte langsam den Kopf. Ihr Blick fiel auf das Amulett um Khepris Hals. „Nein,“ murmelte sie. „Nicht vom Artefakt. Von ihr.“ Khepri spürte, wie ihr Herz raste. Der Stein auf dem Tisch war zerbrochen, das Grün darin identisch mit dem Schimmer ihres Amuletts.
Sie legte die Hand darüber, versteckte es unter dem Stoff ihres Umhangs.
„Ich… weiß es nicht,“ sagte sie schließlich.
Dann musste sie sich an der Tischkante festhalten, weil ihr plötzlich schwindelig wurde. Ihre Sicht verschwamm, die Dunkelheit breitete sich vor ihren Augen aus und mit einem dumpfen Aufprall ging sie zu Boden.

Das Licht war zu hell.
Khepri blinzelte gegen die weiße Decke über sich, hörte entferntes Klirren und das Rascheln von Stoff. Ein vertrauter Duft nach Heiltränken und Lavendel lag in der Luft. „Ah, Sie sind wach,“ sagte eine Stimme. Madam Pomfrey beugte sich über sie, prüfte ihren Puls. „Sie haben Glück gehabt, Miss Khairy. Ihre Mitschülerin Bletchley hat eine Gehirnerschütterung, aber Sie selbst… erstaunlich wenig Blessuren.“ „Liliana?“ Khepris Stimme war kratzig.
„Wird bald wieder ganz die Alte sein. Sie ist nur wütend, dass Sie ihr die große dramatische Rettungsszene gestohlen haben.“ Ein schwaches Lächeln huschte über Khepris Lippen, bevor sie die Decke zurückschob. Das Amulett lag kühl und unscheinbar auf ihrer Brust. Kein Leuchten, kein Summen. Als wäre nichts geschehen.
„Nicht anfassen,“ warnte Madam Pomfrey, „bis wir wissen, was es war, das Sie geschützt hat.“ „Es war nur ein Glücksbringer,“ log Khepri. Madam Pomfrey sah sie prüfend an. „Wenn Sie Glück so definieren, dann hoffe ich, dass Sie keines mehr brauchen.“
Sie ging weiter zum nächsten Bett, wo Liliana mit verbundenem Kopf saß und Percy sich steif auf einem Stuhl daneben hielt. Als er Khepri sah, atmete er hörbar auf.
„Endlich,“ sagte er, „ich habe schon gedacht, Babbling sperrt dich noch in den Runenkeller.“ „Wie spät ist es?“ „Später Nachmittag. Du warst fast vier Stunden bewusstlos.“
Liliana verdrehte die Augen. „Und Snape war hier. Hat dich höchstpersönlich in den Krankenflügel gebracht. Ich hab fast geglaubt, ich halluziniere.“ „Was?“ Khepri setzte sich ruckartig auf. „Er hat dich einfach hochgehoben, als wärst du ein Bücherstapel. Kein Wort. Nur dieses typische Snape-Gesicht.“ Percy seufzte. „Liliana, du bist unmöglich.“ „Ich bin ehrlich,“ erwiderte sie und lächelte schwach.
Khepri stützte den Kopf in die Hand. „Ich erinnere mich nur an Licht. Und Wind. Und dann-“ Ihre Finger glitten unbewusst zu dem Amulett. „Das hier.“ Percy folgte ihrem Blick. „Ich hab’s gesehen. Es hat geleuchtet.“ „Wie?“ „Nicht wie ein Zauber. Eher wie… als würde es etwas einatmen.“
Bevor sie weiterreden konnten, öffnete sich die Tür. Professor Babbling trat ein – blass, mit angeknackster Würde und dem Dossier von Alte Runen unter dem Arm. „Miss Khairy,“ begann sie ruhig, „ich muss Sie zu dem Vorfall befragen. Das Artefakt wurde neutralisiert, aber die Runen waren ägyptischen Ursprungs. Und Ihr… Glücksbringer,“ sie sah auf das Amulett, „…trägt dieselben Symbole.“ Khepris Herz setzte kurz aus. „Er ist alt. Familienbesitz,“ sagte sie vorsichtig.
Babbling nickte langsam und prüfend. „Dann haben Sie sehr… bemerkenswerte Ahnen, Miss Khairy.“ Sie ließ den Satz in der Luft hängen, dann fügte sie hinzu: „Wenn Sie sich erholt haben, kommen Sie morgen zu mir. Ich möchte eine Skizze der Runen anfertigen, solange Ihre Erinnerung frisch ist.“ Sie wandte sich zum Gehen, blieb aber kurz an der Tür stehen. „Und bitte, keine weiteren heroischen Selbstopfer. Das überlassen Sie doch bitte den Gryffindors.“
Als sie weg war, herrschte für einen Moment Stille. Dann öffnete sich die Tür erneut - diesmal leiser. Marcus Flint trat ein. Die Tür schwang hinter ihm zu, und für eine Sekunde war er einfach nur da - groß, mit verschränkten Armen, zwischen genervt und besorgt. „Du hast ein Talent dafür, Chaos zu hinterlassen,“ sagte er. Khepri blinzelte überrascht. „Du kommst, um mich zu beleidigen?“ „Ich komm, weil man sich erzählt, du hättest fast das Klassenzimmer gesprengt. Da wollte ich sehen, ob noch genug von dir übrig ist, um dich zu ärgern.“ Sie lachte schwach. „Ich bin so gerührt.“ Er grinste flüchtig, aber er wirkte ehrlich erleichtert.
Percy räusperte sich. „Ich… äh, überlasse euch zwei mal kurz-“ „Nein, bleib ruhig,“ unterbrach Marcus, zu hastig. „Ich wollte nur…“ Er fuhr sich durch die Haare, suchte nach Worten, die nicht nach Sorge klangen. „…sagen, dass du Glück gehabt hast. Und dass, äh… wenn du wieder in Form bist, du vielleicht mal aufhörst, Runen zu retten und dich lieber um Quidditchplätze kümmerst.“ „Ich weiß gar nicht, was romantischer ist,“ murmelte Liliana. „Dein Mitgefühl oder dein Timing.“ Marcus warf ihr einen Blick zu, der sie sofort verstummen ließ.
Khepri verzog den Mund zu einem kleinen, ehrlichen Lächeln. „Danke, Marcus. Fürs… Nicht-Ärgern.“ Er zuckte mit den Schultern, wandte sich ab. „Mach keine Gewohnheit draus.“ Und bevor jemand etwas sagen konnte, war er schon wieder draußen.
Khepri sah ihm nach – verwirrt, aber irgendwie berührt. Percy grinste in sich hinein. „Unglaublich, der Typ hat Gefühle. Er kann nur nicht buchstabieren, was sie heißen.“ Khepri lachte leise.

Die Ferien hatten begonnen und Weihnachten kam mit großen Schritten näher. Khepri hatte Professor Babbling so alles so gut zu erklären versucht, wie sie preisgeben wollte, aber letztendlich war es nicht viel gewesen, und Babbling hatte sie enttäuscht wieder entlassen. Nun waren die Tage von Unterricht erstmal vorbei.
Der erste Schnee fiel am Morgen der Abreise nach Hause.
Dicke, lautlose Flocken glitten vom Himmel und setzten sich auf die Türme von Hogwarts, auf die kahlen Äste am Seeufer und auf die Umhänge der Schüler, die sich fröstelnd auf den Weg zum Zug machten. Khepri zog ihren schwarzen Lieblingsschal enger um die Schultern und stapfte neben Shukran über den verschneiten Hof.
Liliana tanzte ein paar Schritte voraus, die rote Mütze tief ins Gesicht gezogen, während sie sich lauthals über Marcus Flint aufregte, der angeblich die gesamte Woche vor den Ferien „einfach zu beschäftigt für Smalltalk“ gewesen war. „Ich schwöre, der Mann hat ein Ego wie ein Troll,“ rief sie über die Schulter. „Nur weniger Charme,“ murmelte Khepri. Shukran grinste schief. „Ihr redet dauernd über ihn für jemanden, der euch egal ist.“
„Halt den Mund,“ sagten beide gleichzeitig.
Am Bahnsteig dampfte die Lokomotive leise, der Schnee schmolz auf den heißen Rädern. Überall verabschiedeten sich Schüler, Arme, Koffer, Eulen, Stimmen. Khepri half Liliana, ihren Koffer in das Gepäcknetz zu hieven, während Percy sich durch die Menge schlug, Penelope Clearwater an der Hand. „Frohe Weihnachten, Percy,“ sagte Khepri, als er sich verabschiedete. Er nickte, lächelte warm. „Und bitte, keine Explosionen über die Feiertage.“
„Ich werds ihnen sagen.“ Liliana grinste, lehnte sich aus dem Fenster, als der Zug anfuhr, und rief: „Bis bald, Weasley!“ Penelope winkte zurück, Percy errötete - und Khepri lachte. Dann fiel das Schloss zurück, das Dröhnen der Räder übernahm den Rhythmus, und Hogwarts verschwand im weißen Dunst des Winters.
Der Zug ratterte durch das verschneite Schottland, und in ihrem Abteil war es friedlich.
Liliana hatte die Beine auf die Sitzbank gelegt und schrieb einen Brief, Shukran blickte gedankenverloren aus dem Fenster, Khepri las in einem alten Buch über Schutzzauber. Aaron und Maralen trieben sich irgendwo anders herum, genau wie Sekani und Sara, aber ausnahmsweise wollten sich Shukran und Khepri keine Gedanken um die beiden machen.
Draußen glitt die Landschaft vorbei – Hügel, Wälder, Dörfer, alles in kaltes Blau getaucht.
„Ich freu mich auf Zuhause,“ sagte Shukran plötzlich. „Ich mich auch.“ „Und auf Téta.“ Téta nannten sie ihre Uroma. „Oh ja.“ Liliana sah auf. „Ich fasse es immer noch nicht, dass sie Khepri heißt. Ist das nicht verwirrend?“ „Nur, wenn man es kompliziert macht,“ meinte Khepri trocken.
Als der Zug endlich in London hielt, war es schon dunkel. Ein dicker Mann in grünem Mantel schnaufte, als er die Tür öffnete, und ein Schwall kalter Luft drang hinein. Vor dem Bahnsteig warteten bereits zwei Hauselfen der Familie Khairy, in tadellosen weißen Tüchern mit goldenen Stickereien. „Willkommen, Misters und Misses,“ piepste Shelly ehrfürchtig. „Der Wagen ist bereit.“
Draußen wartete ein großes, dunkel getöntes Auto auf die sieben Schüler, das sie allesamt zu den Khairys nach Hause bringen würde. Liliana hatte beschlossen, die Tage bis Weihnachten Khepri zuhause zu besuchen - darauf hatte sie sich schon seit der dritten Klasse gefreut, aber nie hatten ihre Eltern es erlaubt. Jetzt, da sie 17 war, hatten sie endlich zugestimmt.
Das Auto setzte sich in Bewegung, das Geräusch der Räder dämpfte sich im Schnee.Die Lichter der Stadt verblassten, und nach einer Weile öffnete sich der Blick auf das Land.
Dann: Khairy Manor. Es stand ruhig in der weiten Ebene, das Licht aus den Fenstern warm wie Honig. Über dem Dach glitzerte der Schnee, im Garten brannten Laternen, und in den hohen Fenstern spiegelte sich das Feuer aus dem Salon. Für einen Moment atmete Khepri tief durch. Zuhause.
Liliana drückte ihre Hand. „Das ist also dein Zuhause?“ Khepri nickte. „Willkommen im Sandkasten meiner Familie.“ Liliana lachte - und das Tor öffnete sich wie von selbst.
Alles sah genauso aus wie in ihren Erinnerungen - ein riesiges Herrenhaus, in dem vier Generationen Khairys unter einem Dach lebten. Bis auf ihren ältesten Bruder, der nur kurz nach seinem Hogwarts-Abschluss mit seiner Freundin zusammengezogen war, befand sich hier fast Khepris gesamte Familie: Ihre Uroma, ihr Opa, ihre Eltern, drei Geschwister, ihre Tante mit ihrem Mann und ihr Onkel mit seiner Frau und ihre fünf Cousins und Cousinen.
Die große Eingangstür schwang auf, und sofort ergoss sich eine Welle von Stimmen, Lachen und kalter Winterluft in die Halle. Der Geruch von Kaminholz, Orangen und Gewürztee hing in der Luft – schwer und vertraut. Die Eingangshalle des Khairy-Anwesens war so einladend, wie ein Ort nur sein konnte: der Boden aus hellem Sandstein, glatt poliert, aber an den Rändern von Teppichen in warmen Rottönen durchzogen. Über ihnen hing ein gewaltiger Kronleuchter, in dessen Kristallen sich das Licht des Kamins brach. Eine breite Treppe dominierte den Raum – sie gabelte sich zur Mitte hin und stieg dann nach links und rechts auf, geschwungen und elegant, mit Geländern aus dunklem Mahagoni. An den Wänden hingen Dutzende Bilder: alte Porträts und jüngere Fotografien, die sich unruhig bewegten – lachende Kinder, feiernde Erwachsene, Zauberstäbe, die Funken sprühten, und das stetige Auf und Ab einer Familie, die zu groß war, um je still zu sein. Noch bevor jemand den Koffer abstellen konnte, löste sich das übliche Weihnachtschaos. Aaron und Maralen rasten als Erste über die Schwelle, warfen ihre Schals achtlos auf den Boden und schrien gleichzeitig: „Wir sind da!“ Im nächsten Moment hatte ihre Mutter, Shijia, sie schon in den Armen, küsste beide abwechselnd auf die Stirn und lachte.
Khepri blieb einen Schritt hinter den anderen stehen und atmete tief ein – es roch nach Zuhause. Nach Wärme, Gewürzen und Erinnerungen. Shukran kam hinter ihr herein, einen Arm um Sara gelegt, die schon mitten im Redeschwall über irgendwas in der Schule war. Sara war eine Ravenclaw Vertrauensschülerin im fünften Jahr und sehr wissbegierig. Khepri bekam sie nicht oft zu Gesicht, weil sie immer mit der Nase in einem Buch steckte. Sekani, der letzte im Bunde der aktuellen Hogwarts-Khairys, hob nur kurz die Hand zum Gruß, bevor er von Khepris ältestem Bruder, Teremun, in ein kräftiges Schulterklopfen verwickelt wurde. Teremun und seine Freundin Eleanor waren offenbar gerade bei den Khairys zu Besuch!
Liliana, die als Gast ein paar Schritte zögerlich hinter den Khairys hereinkam, blieb kurz im Türrahmen stehen, staunend. „Ich dachte, du übertreibst, als du sagtest, euer Haus sei groß“, flüsterte sie Khepri zu. Khepri grinste und zog sie mitten ins Getümmel. „Warte ab, bis du die Küche siehst.“
“Du hast Liliana tatsächlich mitgebracht!“, rief Khepris Vater Caleb, der in diesem Moment den Raum betrat. Er umarmte jedes seiner Kinder einzeln. „Ich darf jetzt endlich,“ strahlte Liliana und holte sich ebenfalls eine Begrüßungsumarmung von ihm ab.
Caleb lächelte. „Das freut mich sehr, meine Liebe. Wir haben dir das Gästezimmer vorbereitet, komm mit, ich zeige es dir.“ Er hakte Liliana bei sich ein und führte sie die elegante Treppe hinauf und dann im Ersten Obergeschoss in das Zimmer gegenüber von Khepri.
Im nächsten Moment stürmten die jüngsten Khairys, Shelise und Aiden, die Treppe herunter, begleitet von einer magisch umherspringenden Kugel aus Tannenzweigen.
„Da seid ihr ja endlich! Ihr habt den Schnee mitgebracht!“ „Und Chaos,“ murmelte Shukran, während Shelise ihn sofort in eine Umarmung zog. Opa Teremun kam aus der Bibliothek und klopfte Shukran, der ihm am nächsten stand, zur Begrüßung auf die Schulter. Dann lächelte er in die Runde. “Sie hat sich schon sehr auf euch gefreut.”, sagte er und zeigte mit seiner rechten Hand, in der sich eine altmodische Pfeife befand, zur großen Treppe.
Oma Khepri I, die Matriarchin der Familie, erschien oben auf der Treppe, gestützt auf einen kunstvoll geschnitzten Gehstock. Ihre Stimme hallte warm durch die Halle. „Da sind ja meine Kinder!“ „Téta!“ rief Maralen, und die Zwillinge stürmten sofort nach oben. Ein kleiner goldener Funkenregen schwebte vom Treppengeländer, als Shijia mit einem Zauberstab über die Kränze fuhr – die Tannenzweige begannen zu glitzern, winzige Glöckchen klingelten leise. Überall erstrahlten Kerzen in schwebenden Haltern, als wollten sie die Heimkehr der Schüler feiern.
Zwischen dem Stimmengewirr, den Umarmungen und dem Knistern des Feuers blieb Khepri einen Moment stehen.
Sie sah hinauf zum Treppenabsatz, wo ihre Uroma Khepri lächelte, und dann zu den Fotos an der Wand – Generationen, Lachen, Liebe, Streit und Wiederkehr. Für den Bruchteil einer Sekunde flackerte das Amulett an ihrem Hals leicht auf. Sie legte unauffällig die Hand darauf, lächelte – und ließ sich in die Umarmung ihrer Familie fallen.
Wenn das Herz des Hauses irgendwo schlug, dann hier.

Die Khairy-Küche war kein Raum, sie war ein Lebensgefühl. Das Feuer im großen Steinofen flackerte behaglich, während die Kessel an der Wand leise blubberten und aromatischer Dampf durch die Luft zog. Der lange Holztisch in der Mitte war bereits halb bedeckt – mit Teekannen, dampfenden Schalen und einem wüsten Durcheinander aus Geschenkpapier, Wollmützen, Zauberfedern und Khepris Katze, die sich entschieden hatte, genau dort ihren Platz zu beanspruchen. „Maralen, nimm bitte Nyx´ Schwanz aus der Butter!“ „Sie war zuerst da!“ „Ja, aber die Butter war nicht für sie.“
Shijia lachte, während sie ein Blech voller honigglänzender Dattelkekse auf den Tisch stellte und die Frettchen ihrer jüngeren Zwillinge beiseite schon, die sich direkt daran bedienen wollten. Aaron schnappte sich sofortzwei - einen für sich, einen für sein Frettchen. „Heiße Finger!“ rief seine Mutter streng – doch er grinste nur und pustete hektisch.
Liliana saß inzwischen auf einem Hocker nahe des Fensters, wo der Schnee leise gegen die Scheibe fiel. Sie sah sich um, sichtlich überwältigt von der Wärme, der Lautstärke und der Nähe dieser Familie. „Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal in einem Raum war, der so… lebendig ist“, murmelte sie. Khepri lachte, schob ihr einen kleinen Teller mit frisch gebackenen Schokokeksen zu und deutete auf das Chaos. „Willkommen bei den Khairys. Überlebe die ersten fünf Minuten, dann gehörst du offiziell dazu.“ „Zehn Sekunden,“ korrigierte Shukran, der gerade zwei Tassen balancierte und sie Khepri und Liliana reichte.
„Und du bist wieder in Zuhause-Form?“ neckte sie. Er zog eine Augenbraue hoch. „Wenn du mit ‚Zuhause-Form‘ meinst, dass ich endlich wieder vernünftigen Tee bekomme - ja.“
Sara und Maralen hatten inzwischen begonnen, die Geschenke aus ihren Taschen zu ziehen. Papier raschelte, Stimmen überschütteten sich gegenseitig mit Fragen. „Für wen ist das? Und das?“ „Das ist für Téta – aber sie darf’s noch nicht öffnen!“ „Warum nicht?“ „Weil’s sonst Pech bringt, Dummerchen!“
Ein warmer, kehliger Laut erklang von der Tür her. Oma Khepri I war hereingekommen, auf ihren Stock gestützt, ihr bernsteinfarbenes Tuch schimmerte im Licht des Ofens. „Pech bringt nur das, was man selbst glaubt, meine Liebe,“ sagte sie ruhig und küsste Maralen auf den Kopf. „Aber wenn’s für mich ist, darf ich’s natürlich trotzdem nicht vorher sehen.“ Das verursachte schallendes Gelächter.
Shijia schob währenddessen Liliana eine Schüssel zu. „Hier, probier. Familienrezept. Datteln, Kardamom, ein Hauch Magie.“ Liliana nahm einen Bissen und blinzelte überrascht. „Das schmeckt… nach Sommer. Und Weihnachten gleichzeitig.“ „Dann ist’s richtig,“ sagte Shijia zufrieden. Khepri sah ihre Mutter an, wie sie sich durch die Küche bewegte – ruhig, souverän, eine Mischung aus Feuer und Gelassenheit. Es war ihr so vertraut, dass sie manchmal vergaß, wie besonders das war.
Ein lautes „Autsch!“ riss sie aus den Gedanken - Aaron hatte sich am Ofen verbrannt. Shukran seufzte. „Wie schafft ihr’s eigentlich, ohne Zauber die meiste Unordnung anzurichten?“ „Talent!“ kam die Antwort synchron von Aaron und Maralen. Wieder Lachen.
Selbst Oma Khepri I kicherte leise, setzte sich ans Kopfende des Tisches und klopfte neben sich. „Komm her, kleines Khepri.“ „Ich bin sechzehn, Téta.“ „Dann ist es höchste Zeit, dass du dich mal wieder hinsetzt und mir erzählst, was die Schule diesmal überlebt hat.“
Khepri grinste, setzte sich und spürte das vertraute Gefühl von Heimkehr: das Klirren der Tassen, das Lachen ihrer Geschwister, Lilianas Staunen. Für einen Moment dachte sie, dass alles perfekt war.

Aus der Küche drang nur noch das Knistern des erlöschenden Feuers und das leise, zufriedene Schnurren von Nyx, die sich vor dem Kamin an der Restwärme labte, als Khepri Nachts die Treppe hinunter lief.
Sie schlich barfuß durch den Flur, den Schal eng um die Schultern gezogen. Sie wusste, wo sie ihre Uroma um diese Uhrzeit finden würde - im kleinen Salon neben der Bibliothek, der ihr Lieblingsort im Haus war und - genau wie sie selbst - nach Kamille und alten Büchern roch. Die Tür stand einen Spalt offen.
Drinnen saß Khepri I in einem tiefen Sessel, eine Decke über den Beinen, die bernsteinfarbenen Augen auf ein Pergament gerichtet, das mit winzigen Schriftzeichen bedeckt war. Neben ihr dampfte eine Tasse Tee, und das Licht der Lampe ließ die Linien in ihrem Gesicht weicher wirken, fast durchscheinend.
„Ich habe dich gehört, Kind.“ Ihre Stimme war ruhig, aber nicht müde. Khepri lächelte schief und trat ein. „Ich wollte dich nicht stören.“ „Das tust du nicht, mein Schatz. Setz dich.“
Khepri gehorchte, zog die Beine unter sich und musterte das Pergament. „Was liest du?“ „Alte Namen. Manchmal rufen sie mich.“ Sie deutete auf den Bogen. „Manche sind vergessen, andere tun nur so.“
Khepri schwieg einen Moment, dann legte sie das Amulett auf ihre Handfläche. Das Messing glomm matt im Licht. „Ich glaube, einer dieser Namen hat mich gerufen.“
Ihre Uroma hob den Blick - langsam, wie jemand, der diese Bewegung schon erwartet hatte. „Ich weiß.“ Khepri spürte, wie ihr Herz schneller schlug. „Also… du kennst es?“ „Ich kenne, was es ist.“ Eine Pause, in der das Feuer knackte. „Es wundert mich nicht, dass es dich gewählt hat..“ „Gewählt?“ „So wie ein Zauberstab. Manche Dinge erkennen ihre Träger.“
Sie nahm das Amulett vorsichtig zwischen zwei Finger, drehte es, bis das gebrochene Stück Obsidian im Licht aufflammte. „Dein Urgroßvater und ich haben es geschaffen. Es sollte schützen - vor Flüchen, vor Dunkelheit, vor sich selbst.“ „Vor sich selbst?“
„Magie hat immer einen Preis, Kind. Alte Magie erst recht. Sie nimmt, wenn man ihr zu viel gibt. Also gaben wir ihr ein Herz, das brechen konnte. Damit sie nie ganz lebt, nie ganz stirbt.“ Khepri schluckte. „Und jetzt… ist es meins?“ „Weil du bist, was du bist.“
Der Blick der Alten war plötzlich durchdringend, ernst, aber nicht unfreundlich. „Du trägst beide Linien in dir – die, die schützt, und die, die verflucht.“
Khepri wollte fragen, was sie meinte, warum sie, wenn das doch genauso für den Rest der Familie gelten musste, doch Khepri I legte die Hand auf ihre. Die Haut war warm und erstaunlich fest. „Nicht heute. Du musst erst hören, bevor du fragst.“ „Aber ich höre doch!“ „Nicht mit den Ohren. Mit der Stille dazwischen.“
Khepri senkte den Blick auf das Amulett. Ein schwaches, golden-grünes Licht pulsierte im Obsidian, kaum wahrnehmbar. „Manchmal… flüstert es.“ „Dann antworte nicht.“ Diese Antwort überraschte sie. „Warum?“ „Weil manche Stimmen nur testen, ob du schon bereit bist, zuzuhören.“
Die Stille zwischen ihnen dehnte sich, gefüllt mit dem Ticken der Uhr und dem weichen Atem der alten Frau. Schließlich sagte Khepri leise: „Ich hab’ das Gefühl, dass alles, was ich bin, irgendwie schon vor mir passiert ist.“ „Dann hast du gut aufgepasst.“
Khepri I lächelte müde, aber liebevoll, und ließ das Amulett in Khepris Hände zurückgleiten. „Trag es, aber lass es nicht führen. Noch nicht.“
Als Khepri aufstand, streifte der Blick der Uroma sie ein letztes Mal. „Wenn du träumst, Kind,“ sagte sie, „dann erinnere dich – Träume sind nur Erinnerungen, die noch niemand aufgeschrieben hat.“ Khepri nickte, obwohl sie die Worte nicht ganz verstand.
Sie verabschiedete sich, küsste die kühle Hand ihrer Uroma und schlich leise hinaus. Im Flur war es still, nur das Ticken der alten Uhr begleitete sie auf dem Weg die Treppe hinauf.

Oben, im Dämmerlicht ihres Zimmers, zog sie das Amulett unter ihrem Nachthemd hervor und legte es auf ihre Handfläche. Die Worte ihrer Uroma hallten nach - „dein Urgroßvater und ich haben es geschaffen.“ Khepri runzelte die Stirn.
„Mein… Urgroßvater?“ murmelte sie. Sie konnte sich nicht erinnern, je von ihm gehört zu haben. Nicht in den Geschichten, nicht in den alten Familienalben, nicht einmal in den Briefen, die ihre Mutter aufbewahrte. Wie konnte jemand, der so ein Artefakt erschaffen hatte, aus all den Erzählungen verschwinden?
Sie wollte am liebsten sofort wieder hinuntergehen, fragen, wer er war. Aber die Stimme ihrer Uroma klang noch in ihr nach: „Nicht heute. Du musst erst hören, bevor du fragst.
Khepri legte das Amulett auf den Nachttisch, sah einen Moment in das matte Grün des Obsidianbruchs und flüsterte leise: „Dann frage ich eben morgen.“ Doch das Amulett antwortete nicht. Nur ein kaum wahrnehmbares Vibrieren, unheilvoll, als würden die Antworten noch auf sich warten lassen.
Der Traum begann mit einem Atemzug. Nicht ihrem eigenen, sondern einem fremden. Lang, rau und warm, wie der Wind, der durch eine alte Grabkammer streicht.
Khepri stand barfuß auf Sand. Kein Geräusch, kein Himmel, nur endlose Weite, die sich in goldene Schleier verlor. Der Sand bewegte sich – nicht vom Wind, sondern aus sich selbst heraus, als hätte er ein Gedächtnis. Jede Bewegung war ein Flüstern.
Vor ihr erhob sich eine Düne, gewaltig und still. Darauf lag etwas - ein zerbrochenes Amulett, halb im Sand versunken. Es glomm in demselben grünlichen Schimmer, den sie kannte, pulsierend wie ein Herz. Als sie sich näherte, schob sich unter der Oberfläche etwas großes, lautloses vorbei. Die Körner wogten eine Welle aus Bewegung, und dann glitt eine Schlange hervor. Nicht bedrohlich, majestätisch. Ihr Schuppenkleid schimmerte in Bronze und Schwarz, als spiegele es das Licht der Sonne, die hier nie schien.
Khepri wich nicht zurück. Sie kniete nieder, und der Sand unter ihren Händen war warm. Die Schlange hob den Kopf, und in ihren Augen spiegelte sich ein Gesicht, aber nicht ihr eigenes. Es war ein Mann mit schweren Zügen, dickem Haar, hängenden Schultern und einem verwirrenden Blick, der zugleich fordernd und traurig war.
Er sprach nicht, doch sie verstand ihn. Sein Mund bewegte sich nicht, aber die Luft um sie formte Zeichen, Bilder, Erinnerungen.
Ein Haus aus Stein. Eine Frau, die lacht, mit schwarzen Haaren, die im Licht schimmern. Ein Baby, das nie seinen Namen kennt. Und über allem: eine Stimme, tief und gebrochen, die nicht spricht, sondern sehnt.
Sand glitt zwischen seinen Fingern. Er wollte festhalten, aber er konnte nicht. Was immer er geliebt hatte, war ihm entglitten – begraben, vergessen, verbannt. Der Wind flüsterte, diesmal mit Schlangenzischen, aber kein einziges Wort war bedrohlich. Eher eine Bitte. Ein Wunsch. Und Verzweiflung. Ohne sie war er verloren - ein anderer Mensch, bevor er sie kannte, und ein Verrückter, nachdem sie ihm entrissen wurde.
Er sah sie an - nicht als Fremde, sondern als jemanden, den er längst kannte. Dann hob er eine Hand, berührte sie nicht, aber die Luft zwischen ihnen vibrierte, als hätte sie den Schlag seines Herzens gespürt. Für einen Moment war alles warm - Leben im Blut, Erinnerung im Atem. Dann Stille. Der Mann löste sich in Sand auf. Nur die Schlange blieb zurück, schlang sich um das zerbrochene Amulett und legte es ihr in die Hand. Der Bruch leuchtete, ein einziges Mal, grell und schön, bevor alles in Dunkelheit versank.
Als Khepri erwachte, lag sie schweißnass im Bett.
Der Mond stand hoch über dem Anwesen, und das Amulett auf ihrem Nachttisch glomm sanft in der Dunkelheit. Kein Licht, kein Zauber, nur ein Atemzug – fremd, fern, und voller Sehnsucht.
Khepri atmete tief ein, dann lächelte sie leise. Nicht aus Freude, sondern aus diesem ruhigen, verwirrten Erkennen, dass etwas begonnen hatte, das sich nicht mehr zurückrufen ließ. Sie öffnete das Fenster, ließ kalte Luft herein und sah hinaus über den Garten, der im frostigen Morgenlicht glitzerte.
Dann nahm sie das Amulett, hielt es in der Hand, und flüsterte kaum hörbar: „Ich habe dich gehört.“ Der Bruch im Obsidian blitzte auf – einmal, leise, zustimmend.

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