Kapitel 7 - Ein Brief aus Ägypten

Veröffentlicht am 26. November 2025 um 19:50

Aus den Aufzeichnungen von Khepri Khairy - 20. Februar 1993

Ich weiß nicht, warum ich das überhaupt aufschreibe. Vielleicht, weil ich es so niemandem gegenüber aussprechen muss. Vielleicht, weil ich selbst nicht verstehe, was dieser seltsame Knoten in meinem Bauch bedeuten soll.
Ich habe heute länger über Marcus Flint nachgedacht, als gesund ist. Schon der Satz klingt absurd. Aber da ist irgendetwas, das ich nicht ganz greifen kann, wie ein Funke, der im falschen Moment überspringt.
Er treibt mich in den Wahnsinn. Jedes Mal, wenn er den Mund aufmacht, möchte ich ihn gleichzeitig ohrfeigen und… etwas anderes tun, das ich nicht benennen werde. Er ist ruppig, stur, viel zu laut, und doch… irgendwie aufmerksam. Nicht freundlich. Nicht zart. Eher wie ein Gewitter, das beschließt, mich nicht zu treffen, obwohl es könnte.
Heute hat er mich wieder provoziert. Warum er mich so gern aus der Reserve lockt, weiß ich nicht. Warum ich immer reagiere, noch weniger.
Es ist fast, als würde er etwas sehen, das ich selbst nicht sehen kann, oder nicht sehen will.
Und dann lächelt er plötzlich - selten, unerwartet, gefährlich - und ich weiß nicht, wohin mit mir. Wie kann jemand so nervig sein und gleichzeitig… Nein. Das schreibe ich nicht zu Ende.
Vielleicht bin ich einfach verwirrt, weil das Amulett sich ständig merkwürdig verhält. Oder weil ich kaum schlafe. Oder weil diese Stimme flüstert und Hogwarts von Gerüchten bebt. Vielleicht ist Marcus nur Lärm inmitten des Chaos, ein Lärm, der mich zwingt, mich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf das Amulett und unvollendete Wahrheiten und was auch immer noch auf uns zu kommt. Vielleicht.
Aber ich frage mich, warum der Gedanke an ihn sticht, und warum ich mich frage, ob er wirklich so unbeteiligt ist, wie er tut. Und warum es sich so anfühlte, als wäre der Wind um uns herum still geworden, als er einen Moment zu lange geschwiegen hat. Ich schreibe das alles jetzt auf, damit ich mich später darüber lustig machen kann. Ganz sicher. Bestimmt.
Hoffentlich.

 

Der Morgen war viel zu hell für jemanden, der kaum geschlafen hatte. Khepri lag noch einen Moment lang reglos da, die Stirn an die kalte Fensterbank gelehnt, und blinzelte gegen das Licht an, das eine ihrer Schlafsaalgenossinnen gerade angemacht hatte. Der Schnee draußen glitzerte im frühen Licht, der See dampfte leise, und irgendwo sammelten sich Schüler bereits für das Frühstück. Alles wirkte ruhig. Zu ruhig. Sie erhob sich aus ihrem Kissen, rieb sich die Augen und versuchte, Marcus aus ihren Gedanken zu schieben. Es misslang auf ganzer Linie.
Sein Blick, gestern auf dem Quidditchfeld, dieses kurze, viel zu echte Aufflackern von Irritation und irgendetwas anderem, bevor er sich wieder hinter Grummeleien und Spott verschanzte, ging ihr nicht aus dem Kopf. Und seine Worte… sie hatten sie getroffen. Mehr, als sie wollte. „Weißt du, du brauchst mich nicht zu retten.“ Sie schnaubte. Als hätte sie das je vorgehabt. Als müsste Marcus Flint gerettet werden. Anmaßend, überheblich - und trotzdem hatte er Recht gehabt. Irgendwie wollte sie ihn ja doch retten, vor was genau wusste sie allerdings nicht. Die Erkenntnis nagte an ihr. Und, wenn sie ehrlich war, hatte es ihr gefallen, dass ausgerechnet er sich Sorgen um sie gemacht hatte.
Sie schauderte. Hör auf damit, Khepri. Liliana schnarchte noch leise im Nebenbett, das rote Haar eine wilde Wolke über dem Kissen. Khepri lächelte. Es tat gut, nach den Ferien wieder hier zu sein. Zuhause bei ihrer besten Freundin.
Sie griff nach dem Amulett, das kalt gegen ihre Haut lag. „Warum kannst du dich nicht benehmen?“, murmelte sie. Das Messing vibrierte kaum merklich. „Super. Jetzt spreche ich schon wieder mit Metall.“
Sie stand auf, machte sich fertig und schlich aus dem Schlafsaal.

 

Das Frühstück war bereits im vollen Gange und die Geräuschkulisse aus Lachen, Besteckklirren und magisch klirrenden Kannen fühlte sich nach dem seltsamen Tag gestern wie ein Sturm an. Percy winkte sie zu sich an den Gryffindor-Tisch, obwohl sie eigentlich dort nicht sitzen sollte. „Du siehst aus, als hättest du die halbe Nacht gerechnet.“ „Ich rechne nicht, ich denke.“ „Noch schlimmer.“ Sie stieß ihn mit der Schulter an. „Sehr witzig.“
Percy musterte sie mit diesem viel zu durchdringenden Ausdruck, der ihr sagte, dass er durchaus begriff, dass ihre Unruhe nichts mit Schulstress zu tun hatte. „War Flint wieder… Flint?“ „Er war…“ Sie brach ab. Es gab keine gute Antwort. „…anstrengend.“ Percy verzog die Lippen. „Anstrengend wie 'ich schreie in ein Kissen' oder anstrengend wie 'vielleicht gibt er Ruhe, wenn ich ihn küsse'?" Entsetzt sah sie ihn an. „Ich weiß es nicht!“, stöhnte sie und fuhr sich durchs Haar. Percy äußerte sich sonst nicht auf diese Art zu ihrer merkwürdigen Beziehung zu Marcus, das war eigentlich immer Lilianas Part. In diesem kurzen Moment wollte sie ihn am liebsten auf den Mond hexen. „Müsstest du nicht eigentlich Vertrauensschüler-Dinge tun?“, fragte sie, um vom Thema abzulenken. „Ja. Ich bin hier, trotzdem.“ Er legte eine Hand auf ihre. „Weil du gestern ziemlich fertig aussahst.“ Sie lächelte. „Danke.“ „Gern. Und wegen Flint… ich weiß, du willst das nicht hören, aber-“ „Du hast völlig Recht, ich will es nicht hören.“ Ein warnender Blick.
„Okay, okay.“ Er zog die Hand zurück und nahm einen Schluck Tee. „Ich habe übrigens eine Antwort von Bill bekommen“, sagte Percy beiläufig. Khepri erstarrte. „Was?!“
„Naja - er hat noch nicht geantwortet. Aber die Eule ist zurück. Also ist sie angekommen. Du wirst sicher bald etwas hören.“ Ihr Herz machte einen kleinen Sprung - aus Nervosität, aus Vorfreude, vielleicht auch aus Angst. „Gut“, murmelte sie. „Das hoffe ich.“ Percy lächelte. „Das wird dir gefallen, weißt du? Bill ist… anders als ich. Und Fred und George. Und Charlie sowieso.“ Bei dem Namen hob Khepri kurz den Kopf. „Charlie?“ „Er ist jetzt in Rumänien. Drache-hier, Feuer-da. Du würdest ihn mögen.“ Ein verschwörerischer Blick. „Er ist unkompliziert.“ Sie lachte. „Ich glaube, nach Marcus Flint wäre selbst ein ganzes Jahr voll Arithmantik unkompliziert.“ „Nicht lustig“, sagte Percy, aber er grinste. Hatte er vergessen, fragte sich Khepri, dass sie Charlie doch kannte? Immerhin war sie bis zu seinem Abschluss ziemlich heftig in ihn verschossen gewesen.

Ein Schatten fiel über den Tisch. Khepri erstarrte, als sie eine vertraute, unverwechselbare Stimme hörte: „Khairy.“ Sie drehte sich um - und da stand Marcus Flint, die Hände in die Taschen gestemmt, der Ausdruck typisch genervt… und doch irgendwie vorsichtig. „Wir müssen reden.“ Percy räusperte sich vielsagend. „Ich… äh… muss Vertrauensschüler-Dinge erledigen.“ Khepri fauchte „Du musst gar nichts! Bleib hier!“, aber Percy war weggewieselt. Der Verräter.
Marcus verschränkte die Arme. „Ich wollte nur wissen, ob du–“ „Ich kann für mich selbst sorgen.“ Er schnaubte. „Das sieht meistens nicht so aus.“ Sie sprang auf.  „Du-!“
Für einen Moment standen sie voreinander, nur eine Armlänge entfernt, die Luft zwischen ihnen knisternd wie der Moment vor einem Gewitter. Marcus war der Erste, der wegschaut. „Ich will nicht, dass dir was passiert. Mehr nicht.“ Das sagte er so leise, dass vermutlich nur sie es hörte. Und dann ging er. Einfach so.
Khepri stand da, den Mund halb geöffnet, völlig überrumpelt. Was soll das, Marcus Flint? Was… soll… das?

 

Die Bibliothek war zu dieser Tageszeit fast leer. Nur ein paar vereinzelte Ravenclaws mit Freistunde saßen über Pergamenten gebeugt, während Madame Pince irgendwo zwischen den Regalen lauerte wie eine Katze, die darauf wartete, einen Schüler beim leisen Räuspern zu ertappen. Khepri schob sich zwischen zwei hohe Regale und fand Aaron und Sekani bereits dort, genau wie verabredet. Aaron hatte nervös mit dem Fuß gewippt, Sekani hielt sich an einem Buch fest, als bräuchte er einen physischen Anker. „Endlich“, flüsterte Aaron und zog sie zwischen die Schatten. „Ich dachte schon, du kommst nicht.“ „Ich hatte… Ablenkung.“ Khepri verzog das Gesicht. „Marcus Flint-Ablenkung.“ „Ah“, machte Aaron und grinste zu breit. „Dann ist klar.“  „Wenn du noch einen Kommentar machst, mache ich Maralens Drohung zu Wahrheit und du fliegst hochkant aus dem Fenster!“, zischte Khepri.
Aaron erstarrte. Sekani hob eine Augenbraue. „Das meinst du nicht ernst. Oder?“ „Ich weiß nicht mal, wie ernst ich irgendetwas meine.“ Khepri ließ sich gegen das Regal sinken. „Deswegen… sind wir ja hier.“
Sekani klappte das Buch zu, das er in Händen gehalten hatte - ein alter, zerfranster Band über magische Lautsprache. „Wir müssen es systematisch angehen.“ Aaron nickte heftig.
„Ja. Systematisch. Wissenschaftlich. Mit… äh… Hypothesen und so.“ „Und so“, wiederholte Khepri trocken.
Sie traten enger zusammen, der Schatten des hohen Regals schützte sie vor neugierigen Blicken. Khepri spürte wieder dieses Ziehen im Bauch - nicht Angst. Verbundenheit. Das war ein Familienmoment, wie sie ihn nie zuvor erlebt hatte. Sekani atmete tief ein. „Wir fangen einfach an.“ Er neigte den Kopf, und seine Stimme glitt in einen Laut, der zu sehr nach Atem und zu wenig nach Worten klang: „Sss-ahh…?” Ein Schauer lief Khepri über die Wirbelsäule. Es war, als ob irgendwo im Schloss ein Echo antworten wollte. Aaron schreckte zurück. „Okay. Das war gruselig. Aber irgendwie… richtig?“
Khepri nickte langsam. „Ich hab das verstanden.“ Sie hielt inne. „Also… nicht verstanden. Aber gespürt. Kennt ihr das?“ Sekani legte die Stirn in Falten. „Es ist wie ein Wort, das ich auf der Zunge habe. Ich weiß, was es bedeuten soll, aber nicht, wie ich es übersetze.“ „Vielleicht sind es keine Wörter“, flüsterte Aaron. „Vielleicht sind es… Gedanken. Gefühle. Es klingt wie das Zischen einer Schlange, findet ihr nicht?“ Khepri gab ihm Recht, schloss die Augen und ließ ihren Atem tiefer werden. Das Amulett schlug kalt an ihrer Brust. Jetzt nicht, bat sie stumm. Ich brauche Klarheit. Sie versuchte, denselben Laut zu formen wie Sekani. „Sss… aa…“ Ihre Stimme rutschte instinktiv in ein tieferes Klangmuster, rauer, fremder - und gleichzeitig irritierenderweise vollkommen vertraut. Beide Jungen hielten den Atem an. Aaron flüsterte „Khepri… das klang so, als würdest du…“ „…mit jemandem reden, den wir nicht sehen können“, endete Sekani. Das Buch in seinen Händen vibrierte für einen Sekundenbruchteil, so leise, dass man es für Einbildung hätte halten können. Khepri schüttelte die Hände, als könnten die Vibrationen darin hängen bleiben.
„Okay. Also. Wir können diese… Sprache. Oder was auch immer. Und wir hören die Stimme.“ Aaron nickte. „Und das heißt…?“ „Dass wir es nicht sind, die verrückt werden“, murmelte Sekani. „Sondern Hogwarts“, ergänzte Aaron feierlich. Ein Moment der Stille folgte - und dann mussten alle drei gleichzeitig lachen. Leise, nervös, zu ehrlich. Khepri setzte sich auf den Boden, zwischen die Regale. „Wir brauchen Regeln“, sagt sie schließlich.
„Nummer eins: Wir reden mit niemandem darüber, bis wir wissen, was wir können.“ „Nummer zwei“, fügte Sekani hinzu, „wir hören weiter zu und vergleichen, was wir verstehen.“ Aaron hob die Hand. „Nummer drei: Wenn einer von uns plötzlich anfängt, Schlangen zu züchten oder so, holen die anderen Hilfe.“ Khepri und Sekani starrten ihn gleichzeitig an. Aaron zuckte mit den Schultern. „Was? Ich mag Regeln.“ “Meine Regeln magst du nie”, erinnerte ihn Khepri.
Sie setzten die Runde fort - immer nur ein Wort, ein Laut, ein Atemzug. Keiner verstand wirklich, was gesagt wurde, und doch wussten alle drei: Es war eine Sprache. Alt, tief, gefährlich. Und sie gehörte ihnen. Schließlich klappte Khepri das Buch zu und sagte leise: „Ich hab Angst, dass das größer ist, als wir denken.“ Sekani nickte. „Ich auch.“ Aaron drehte das Buch hin und her. „Aber wir sind nicht allein. Das ist der Unterschied.“ Khepri lächelte schwach. „Und das ist wahrscheinlich das Wichtigste, was wir heute herausgefunden haben.“ Sie standen auf. Draußen läutete die Glocke zum Unterricht.
Khepri strich ihr Amulett glatt, und für einen Augenblick schimmerte der gebrochene Obsidian schwach - als würde jemand auf der anderen Seite der Welt zuhören.

 

Kaum hatte Percy ihr den Brief überreicht, war er schon dabei, seinen Umhang zurechtzuzupfen und mit nervöser Energie zu schnauben, als wäre das Schreiben ein lebendiges Wesen, das Khepri gleich anspringen könnte. „Ich wollte ihn dir gleich geben,“ sagte er und senkte die Stimme. „Nun, eigentlich wollte ich warten, bis wir in der Bibliothek sind, aber-“  „-Geduld ist keine Weasley-Tugend?“ warf Liliana trocken ein. „Sehr witzig.“

Khepri hielt den Brief zwischen den Fingern. Das Pergament fühlte sich warm an, von der Sonne Ägyptens getränkt. Der Absender war nur ein roter Fleck Wachs mit dem Symbol der Gringotts-Fluchbrecher. Sie zog sich mit Percy und Liliana in eine ruhigere Ecke des Saals zurück, dorthin, wo ein paar Ritterüstungen dösend glänzten. Percy stand so nah, als hätte er Angst, sie könnte den Brief falsch öffnen. Sie brach das Siegel. Das Pergament entrollte sich fast von selbst. Bill Weasleys fließende Handschrift sprang ihr entgegen.

Khepri,
ich habe deinen Brief gelesen und wusste schon nach dem dritten Satz: Das ist kein gewöhnliches Schulprojekt. Die meisten Hogwarts-Schüler schreiben mir wegen Hausarbeiten über ägyptische Flüche oder weil sie meinen Bruder bestechen wollen. Du bist die Erste, die mir tatsächlich ein Problem schickt. Also gut. Lass uns sehen.
Ein Amulett aus Messing, Obsidian, beschädigt, alte Gravur, reaktiv? Sehr ungewöhnlich. Obsidian wird selten gebrochen - wenn es das tut, dann entweder bewusst, als Opfergabe oder als Teil eines Schutzrituals. oder weil das Artefakt seine Aufgabe erfüllt oder verfehlt hat.
Du erwähnst „Reaktionen“. Licht, Wärme, vielleicht Druckveränderungen? Das klingt nach gespeicherter Magie. Und glaub mir: Artefakte, die auf Blutlinie reagieren, sind selten - und mächtig. Nicht unbedingt gefährlich, aber auch nicht harmlos. Kleiner Tipp: Heb es nicht einfach jedes Mal hoch, wenn du neugierig bist. Alte Magie ist launisch. Besonders die ägyptische. Ich spreche aus Erfahrung. Mehrmalige Erfahrung. Schmerzlicher Erfahrung.
Könntest du ein Abbild der Inschriften schicken? Auch die Rückseite. Alles, was eingeritzt oder abgegriffen aussieht. Wichtig: nicht zu lange berühren, wenn es gerade „aktiv“ war. Artefakte wie dieses nehmen gerne Dinge auf - Wärme, Fingerabdrücke… Erinnerungen.
Weiß Percy schon alles? Wenn ja: Gut. Er ist zuverlässig. Wenn nein: Denk darüber nach. Ich kenne meinen Bruder. Er wird dir helfen.
Oh, und falls du dich fragst: Nein, das ist kein gewöhnliches Amulett. Wenn du willst, kann ich in den Sommerferien kurz nach England kommen. Ich sollte sowieso mal schauen, ob Charlie noch lebt, oder ob ihn inzwischen ein Drache angeknabbert hat.
Passt auf euch auf.
Bill Weasley[/style]

Khepri atmete langsam aus. „Er glaubt also, es ist gefährlich,“ murmelte sie. Percy rückte die Brille zurecht. „Er hat nie gesagt gefährlich.“ „Percy, er hat geschrieben ‘schmerzliche Erfahrung’. Das ist quasi Weasley-Code für ‚Renn um dein Leben’.“ Liliana beugte sich über das Pergament. „Und er kommt vielleicht nach England! Ich hab gehört, er sieht gut aus.“ Percy stöhnte. „Liliana, bitte nicht… er ist mein Bruder!“ Khepri konnte nicht anders - sie lächelte trotz der Schwere, die Bill Worte hinterließen. Etwas in ihr beruhigte sich. Eine Fachmeinung. Eine Richtung. Nicht nur Träume, Instinkt und Angst.
„Ich muss ihm antworten,“ sagte sie. „Und zwar schnell.“ „Ich helfe dir,“ bot Percy sofort an.
Es überraschte sie, wie sehr ihn das Ganze beschäftigte. Vielleicht war es nicht nur das Amulett. Vielleicht war es sie. „Danke,“ sagte sie. Ihre Finger schlossen sich um das Pergament.

 

Der Himmel über Hogwarts hing tief, wolkenschwer und grau wie nasse Wolle. Das Quidditchfeld war an diesem Abend fast leer, nur ein paar Spieler vom Slytherin-Team drehten unmotiviert ihre Runden, ihre Kurven klangen wie müde Atemzüge im Wind.
Khepri stand am Rand des Rasens und zog den Schal enger um die Schultern. Sie war nicht hier, um Marcus Flint zu sehen. Ganz sicher nicht. Sie wollte nur… frische Luft. Klaren Kopf. Irgendetwas anderes als Flüstern und Amulette und alte Runen.
Natürlich war Marcus genau der Erste, der sie bemerkte. „Was machst du hier?“ rief er von oben herunter, als hätte er ein Recht darauf zu wissen, wohin sie ging. „Spazieren.“
Khepri verschränkte die Arme. „Das ist erlaubt, oder muss ich dich vorher um Erlaubnis fragen, Kapitän?“ Marcus stieg tiefer, drehte den Besen elegant nach unten und landete direkt vor ihr. Viel zu nah. „Wenn du hier bist, um mich zu provozieren, musst du es besser versuchen.“ „Oh? Ich dachte, dafür reicht schon meine bloße Existenz.“
Ein Zucken an seinem Mundwinkel. Wurde das ein Lächeln?
„Ziemlich großmäulig heute“, sagte er und stemmte eine Hand in die Hüfte. Die andere lag locker am Besenstiel - lässig, kontrolliert, bereit, jederzeit zurück in die Luft zu gehen.
„Ich hatte einen langen Tag.“ „Du hast immer einen langen Tag.“ „Du machst meine Tage auch nicht gerade kürzer.“ Jetzt grinste er wirklich.
Der Wind erwischte sie beide gleichzeitig. Er zerrte an Khepris Haaren, wehte Strähnen in ihr Gesicht. Marcus’ Umhang schlug gegen seine Beine, und für einen Moment sah er aus wie ein Teil des Sturms selbst. „Du solltest nicht hier sein“, sagte er. „Es ist kalt. Und du bist…“ „Ich bin was?“ Khepri hob das Kinn. Marcus’ Blick glitt über ihr Gesicht, dann über ihre Haltung, dann wieder zu ihren Augen. Ungewöhnlich aufmerksam. Ungewöhnlich still. „…du bist abgelenkt.“ Khepri schluckte. „Ich denke viel nach.“ „Zu viel, wie immer.“
Er trat einen Schritt näher. „Wenn du in deinem Kopf bist, bist du kein Gegner.“ „Ich kämpfe doch gar nicht.“ „Noch nicht.“
Ihr Herz schlug schneller - wütend, verwirrt, lebendig. „Warum bist du so?“, fragte sie. „Warum tust du immer so, als würdest du mich nicht leiden können, aber tauchst ständig genau da auf, wo ich gerade bin?“ Marcus blinzelte. Einmal. Langsam. „Weil du nie wegbleibst.“ „Was soll das heißen?!“, fragte sie, verwirrt von dieser Aussage. „Dass du überall Chaos machst, Khairy. Auch da, wo du es nicht solltest.“ „Ich mache kein Chaos!“ „Du atmest Chaos.“ Der Wind lachte mit, schlug ihnen ins Gesicht.
Khepri ballte die Fäuste. „Wenn du nur hergekommen bist, um mich zu beleidigen—“
„Bin ich nicht.“ Seine Stimme wurde tiefer, ernster, fast ungewohnt weich. „Ich hab gesehen, was in Runen passiert ist. Wie deine Kettet reagiert hat.“ Khepri wurde eiskalt. „Du… hast das gesehen?“ Marcus nickte. „Ich war dabei, Khepri. Ich war zwei Reihen hinter dir. Ich hab gesehen, wie das Ding aufgeglüht hat wie ein verfluchter Stern. Und ich hab gesehen, wie du fast zusammengesackt wärst.“ Khepri senkte die Stimme. „Warum hast du nichts gesagt?“
„Weil du es gehasst hättest.“ Er zuckte mit den Schultern, als wäre es das Offensichtlichste der Welt. „Das Mitleid. Die Aufmerksamkeit. Du wirst rot im Gesicht, wenn jemand sich Sorgen um dich macht.“ Khepri öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Das war… Das war unerwartet präzise.
Marcus sah sie an, als würde er prüfen, wie weit er gehen durfte. „Also ja“, sagte er schließlich. „Ich wollte wissen, wie es dir geht.“
Khepri war plötzlich froh, dass der Wind ihre Wangen rot färbte - so musste er das andere nicht sehen. „Mir geht es gut“, flüsterte sie. „Lüg mich nicht an“, sagte er ruhig. Ihr Atem setzte aus. „Wenn irgendwas los ist…“, er presste die Lippen zusammen, suchte nach Worten, „…dann sag Bescheid. Nicht, weil ich nett bin. Ich bin nicht nett. Aber du…“ Er brach ab. „Ich was?“, hauchte Khepri.
Marcus sah weg. Zum ersten Mal überhaupt sah er weg. „Du bist unter meinem Radar“, murmelte er. „Und das stört mich.“ Stille. Wind. Verfluchtes schlagendes Herz.
Khepri wusste nicht, ob sie lachen, schreien oder ihn schubsen sollte. Schließlich holte Marcus tief Luft, griff wieder nach seinem Besen und sagte rau:
„Trainier mit mir. Wenn du unbedingt fliegen willst, dann tu ich wenigstens so, als hätte ich alles im Griff.“ „Aber ich darf nicht ins Team.“ „Hab ich auch nicht gesagt.“ Er grinste schief.
„Ich brauche nur jemanden, der mich ärgert, damit ich schneller reagiere. Und du bist da ausgesprochen begabt.“ Khepri wusste nicht, ob sie ihn ohrfeigen oder umarmen sollte. „Morgen früh um sechs“, sagte er knapp. „Wenn du zu spät bist, flieg ich dir davon.“„Ich bin nie zu spät.“ „Dann wird’s interessant.“
Er stieg auf seinen Besen, stieß sich ab — der Wind trug ihn hoch. Noch im Flug drehte er sich zu ihr um und rief „Und Khepri? Bring Handschuhe mit. Der Wind meint es zur Zeit nicht gut.“ Sie blieb allein am Feldrand zurück. Der Wind wehte um sie, erbarmungslos, kalt, eisern.
Und ihr Herz war lauter als das Flüstern in den Mauern. Er hatte sie Khepri genannt.

 

Der Gryffindor-Tisch war laut wie immer, doch die Slytherin-Ecke wirkte heute ungewöhnlich entspannt. Khepri hatte gehofft, unauffällig an Percy vorbeischlüpfen und sich zu den Slytherins gesellen zu können, denn er sah aus, als wollte er mindestens drei Dinge gleichzeitig korrigieren, was bei Percy Weasley gefährlich werden konnte. Aber bevor sie fliehen konnte, tauchte Penelope Clearwater neben ihm auf, ein Stapel Bücher im Arm, und schenkte Khepri ein warmes Lächeln. „Khepri! Darf ich mich kurz zu dir setzen?“
Percy sah irritiert zwischen ihnen hin und her. „Ich… äh… ich dachte, ihr hättet noch keinen festen- also nicht- also-“ „Percy“, unterbrach Penelope sanft. „Hör auf zu reden.“ Er verstummte sofort.
Penelope setzte sich zu Khepri und faltete die Hände.
„Ich wollte nur kurz etwas klären“, sagte sie leise. „Nur zur Sicherheit. Ich weiß, dass du und Percy mal… tja…“ „Wir waren ungefähr fünf Minuten zusammen“, warf Khepri ein. „Und beide gleichermaßen entsetzt.“ „Genau!“ Penelope strahlte erleichtert und Khepri musste einfach mitlächeln. “Hör zu, da haben wir nur etwas ausprobiert, weil alle irgendwie damit anfingen, aber du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, dass keinerleich romantische Gefühle zwischen uns vorhanden sind oder je waren. Versprochen.”
„Wunderbar. Ich wollte nur sicher gehen, dass das nicht… unangenehm für dich ist. Oder für uns.“ Khepri blinzelte. „Penelope, du bist perfekt für ihn. Wirklich. Und ich mag dich. Sehr sogar.“ Percy bekam einen hochroten Kopf. „Ihr… mögt euch?“
„Oh, bitte“, lachte Penelope. „Wir teilen uns nicht bloß dich. Wir teilen uns auch dein Chaos.“ „Welches Chaos?“, empörte Percy. Beide Mädchen sahen ihn vielsagend an. „Ah“, murmelte er. „Dieses Chaos.“
Penelope beugte sich zu Khepri. „Wenn du irgendwas brauchst… wirklich irgendwas… sag Bescheid. Percy macht sich Sorgen um dich. Ich… auch ein bisschen.“ Khepri spürte Wärme in der Brust. Erstaunen, und Dankbarkeit. „Danke“, sagte sie leise. „Ehrlich.“

 

Liliana lag ausgestreckt auf ihrem Bett, ein Kissen über dem Gesicht, und stöhnte dramatisch, als Khepri hereinkam. „Okay“, sagte Liliana ohne das Kissen zu bewegen. „Sprich.“ „Was?“ „SPRICH.“ Das Kissen flog zur Seite, ihr roter Lockenkopf tauchte auf, ihre grünen Augen funkelten. „Du hast dieses Gesicht. Dieses ‘Ich verdränge etwas, das ich nicht verdrängen kann’-Gesicht.“ „Ich habe kein solches Gesicht.“ „Doch. Und ich kenne es.“
Khepri ließ sich auf ihr Bett sinken. „Es ist nichts-“ „Khepri.“ Liliana setzte sich auf und rückte näher. „Du wirst mir jetzt sagen, was los ist. Ich bin deine beste Freundin. Ich kenne deine Lügen in- und auswendig.“
„Es ist nur…“ Khepri presste die Lippen zusammen. „Marcus.“
Liliana strahlte, als wäre Weihnachten zurückgekehrt. „Also doch. Er bringt dich um den Verstand.“ „Wörtlich!“, rief Khepri. „Er sagt die unverschämtesten Dinge, aber dann ist er wieder… nett? Oder irgendwie… aufmerksam? Und dann schubst er mich fast vom Besen! Ich verstehe ihn nicht!“ Liliana grinste. „Das heißt übersetzt: Er hat Gefühle und hasst es.“
„Marcus Flint hat keine Gefühle.“ „Oh, Khepri.“ Liliana tätschelte ihre Hand wie ein weiser Großvater. „Jungs wie er haben Gefühle. Sie sind nur schlecht darin.“ Khepri ließ den Kopf nach hinten sinken. „Was mache ich denn jetzt?“ „Gar nichts“, sagte Liliana. „Lass ihn verwirrt sein. Lass ihn schwitzen. Lass ihn sich fragen, warum er dich sucht, wenn er dich doch angeblich so nervig findet.“
„Ich bin nervig.“ „Du bist nervig, weil du ehrlich bist. Er ist nervig, weil er ein emotional verschlüsselter Besenstiel ist.“ Khepri musste lachen. Liliana grinste zufrieden. Dann wurde sie etwas ernster. „Und Khepri? Wenn du irgendwann reden willst… über das Amulett, oder das Flüstern… oder was auch immer. Ich bin da.“ Khepri fühlte einen Knoten in ihrer Brust, der sich langsam löste. „Ich weiß.“
Liliana legte den Kopf schief und musterte sie. „Du hast Angst.“, stellte sie fest. Khepri sah zu Boden. „Ein bisschen.“ „Dann teilen wir sie.“ Khepri sah sie an und lächelte, bevor sie sich in eine warme Umarmung ziehen ließ.

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