Kapitel 8.1 - Die Dinge nehmen ihren Lauf

Veröffentlicht am 27. November 2025 um 12:27

Aus den Aufzeichnungen von Khepri Khairy – 18. März 1993

Ich beginne langsam zu verstehen, warum Téta immer sagte, dass alte Geheimnisse Schatten werfen. Es ist, als würden diese Schatten inzwischen überall im Schloss liegen.
Seit dem dritten Angriff spricht niemand mehr normal miteinander. Die Gänge sind stiller geworden. Gespräche hören abrupt auf, wenn jemand näherkommt. Jeder schaut sich um, als könnte die Dunkelheit selbst zuschlagen.
Manchmal glaube ich, dass Hogwarts atmet. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass das Amulett mich beruhigt, aber das tut es nicht. Es pulsiert nur in Momenten, in denen ich es nicht erwarte, als würde es etwas bemerken, was ich nicht sehen kann. Ich frage mich, wie lange ich das noch ignorieren kann. Wie lange wir das noch ignorieren können.
Und dann ist da Marcus.
Ich werde es jetzt einfach ehrlich aufschreiben, weil ich es sonst nie ausspreche: Ich weiß nicht mehr, wo ich mit ihm stehe. Ich weiß nicht einmal, ob er weiß, wo wir stehen.
Dieses ewige Hin und Her zieht sich wie ein Knoten durch meinen Kopf.
Wir streiten, wir sticheln, wir treiben uns gegenseitig in den Wahnsinn - und trotzdem sucht er ständig meine Nähe. Oder ich seine. Vielleicht beides.
Ich bin müde davon, so zu tun, als würde es mir nichts ausmachen. Es macht mir etwas aus.
Und ich mache mir Sorgen. Nicht nur wegen ihm. Sondern wegen allem.
Percy versucht, ruhig zu bleiben, aber ich sehe, wie seine Hände zittern, wenn er glaubt, dass niemand hinsieht. Liliana tut stark, aber ich merke, wie oft sie auf Penelope schaut - als prüfe sie, ob ihre Freundin noch sicher ist.
Und ich… ich höre die Stimme immer öfter.
Manchmal mitten im Unterricht. Manchmal in der Nacht. Manchmal so nah, als würde sie direkt hinter mir stehen und atmen. Heute hatte ich das Gefühl, dass jemand meinen Namen geflüstert hat. Nicht wie sonst - nicht drohend. Es war fast… bittend. Ich weiß nicht, ob das besser oder schlimmer ist. Wenn das so weitergeht, dann wird bald wieder jemand verletzt werden. Ich spüre es in meinen Knochen, so deutlich wie das Pochen des Amuletts.
Vielleicht ist das der Grund, warum ich nicht schlafen kann. Oder warum ich plötzlich auf Geräusche achte, auf Schatten, auf Bewegungen, die zu schnell verschwinden.
Hogwarts verändert sich. Und ich habe das Gefühl, dass ich bald keine Wahl mehr habe, als herauszufinden, warum.

 

Der Morgen hing schwer über Hogwarts, als hätte sich das Schloss selbst in einen dichten Mantel aus Stille gewickelt. Keine lachenden Schülergruppen in den Gängen, kaum Gespräche beim Frühstück. Nur das Kratzen von Besteck, geflüsterte Gerüchte - und Blicke, die länger und misstrauischer als früher verweilten. Khepri schob ihren Teller von sich. Ihr Appetit war verschwunden, seit das dritte Opfer gefunden wurde.

Justin Finch-Fletchley, ein Hufflepuff im zweiten Jahr. Und der Fast Kopflose Nick, der beinahe zu Staub zerfallen war. Neben ihr wirbelte Liliana gedankenverloren einen Löffel zwischen den Fingern, den Blick auf den Lehrertisch gerichtet. „Sprout sieht aus, als hätte sie nicht geschlafen,“ murmelte sie. „Hat sie vermutlich auch nicht,“ antwortete Khepri leise.
Professor Sprout sah bleich aus, die Lider geschwollen, die Schultern gestrafft, als hielte sie die gesamte Hufflepuff-Gefühlswelt allein. Gleich daneben saß Snape, finsterer als sonst, die Fingerkuppen aneinandergelegt, während seine Augen jeden Winkel des Saals abtasteten. Khepri hatte das Gefühl, er zählte die Schüler.
„Alle reden schon wieder“, flüsterte Liliana und stieß mit dem Kinn in Richtung eines Zweitklässler-Tisches. „Gestern hat jemand behauptet, Harry Potter würde nachts mit leuchtenden Augen durch die Gänge laufen.“ Khepri rollte die Augen. „Zweite Woche hintereinander, dass sie ihn für einen dunklen Geist halten.“ „Naja…“ Liliana senkte die Stimme noch mehr. „Wir wissen alle, dass er etwas hört.“ Khepris Herz stolperte. Etwas hören. Sie spürte Aaron und Sekanis Blick von der Hufflepuff-Tafel, beide stiller als sonst. Ja - sie wussten es. Sie hörten es auch.
Liliana beugte sich zu ihr. „Khepri, ist alles okay? Du siehst aus, als würdest du gleich…“ „Ich bin nur müde.“
Liliana musterte sie. „Du bist erschöpft. Und du machst mir Sorgen.“ Bevor Khepri antworten konnte, schob sich ein Schatten auf der anderen Seite des Tisches vor sie. Marcus Flint. Natürlich. „Khepri.“ Allein sein Tonfall ließ Khepri die Zähne zusammenbeißen, auch wenn es sie überraschte, dass er offenbar plötzlich beim Vornamen blieb.. „Was willst du?“
Er verschränkte die Arme. „Ich wollte nur sagen, du solltest nachher nicht allein durch die Korridore laufen.“ „Ich komme zurecht.“ „Nicht unbedingt.“ Marcus beugte sich zu ihr, die Stirn gerunzelt. „Es wird schlimmer. Es ist überall… und du bist nicht unverwundbar.“
Khepri blinzelte. Das war fast… besorgt. Liliana hob die Augenbrauen so hoch, dass sie fast im Haaransatz verschwanden. Marcus räusperte sich, als hätte er sich selbst ertappt. „Ich meine nur - wenn du umfällst, muss irgendwer dich wieder aufheben, und das wird nicht Snape sein.“
„Und du bist dann mein Retter in Rüstung auf dem weißen Pferd, ja?“, fragte Khepri. Ihr ging die Lust zum Streiten gehörig verloren. „Ich bin sportlich.“  „Du bist unmöglich.“ Er hielt ihrem Blick lange stand. Zu lange. Dann drehte er sich abrupt um und stapfte davon. Liliana atmete aus. „Das da… ist auf jeden Fall etwas.“
„Nein“, sagte Khepri zu schnell. „Oh, absolut etwas.“ „Liliana-“ „Er war besorgt! Marcus Flint! Der Junge, der höchstens Gefühle zeigt, wenn sein Lieblingsbesen falsch poliert wird.“ Khepri starrte in ihr leeres Glas, spürte den Knoten in ihrem Bauch wieder fester werden. „Ich habe keine Zeit für… irgendwas mit Marcus.“ „Du hast aber Platz dafür in deinem Kopf, hm?“ Khepri funkelte sie an, aber Liliana lächelte nur breit und unbeeindruckt ihr perfektes Lächeln.

Zauberkunst lief an diesem Morgen langsamer als sonst. Professor Flitwick sprach über Bannzauber, aber Khepri hörte nur mit halbem Ohr zu. Ihre Gedanken drifteten - zurück zu den Ferien, zu Téta Khepris Geschichten, zum Amulett, das sie heute Morgen kalt wie Eis auf der Haut getragen hatte. Ganz kurz zu Marcus, aber sie gab sich alle Mühe, ihn bloß schnell wieder aus ihren Gedanken zu verbannen.
Shukran neben ihr kritzelte mit ungewöhnlicher Unruhe Notizen. Er war in den letzten Tagen stiller geworden. Nicht nur still, fast hohl. Jedes Lächeln wirkte, als müsste er es aus den Resten einer Erinnerung zusammenbauen. „Alles okay?“, flüsterte sie. „Ja“, murmelte er, „nein… ich weiß nicht.“ Sie wollte nachhaken, doch da flog plötzlich die Tür des Klassenraums auf. Maralen. Mit zerzausten Haaren, gerötetem Gesicht, und einem Blick, der direkt in Khepris Magen schlug. „Shukran!“
Flitwick erschrak so sehr, dass er rückwärts vom Stapel Bücher plumpste. „Miss Khairy! Das ist kein-“ Doch Maralen war schon durch den Raum gestürmt. In der Hand ein zerknitterter Umschlag. Ihre Schritte klangen wie Donner zwischen den Bänken. Shukran stand bereits, noch bevor sie ihn erreichte. „Für dich“, brachte Maralen hervor. „Es- es ist wichtig.“
Er riss ihr den Brief aus der Hand, so hastig, dass er das Siegel halb zerfetzte. Khepri sah, wie seine Augen die Zeilen überflogen. Er sah nur fünf Sekunden hin, dann wurde er weiß.
Ohne ein Wort stieß er den Stuhl zurück und rannte ohne Zögern aus dem Klassenraum.
Die Tür schlug hinter ihm zu. Für einen Atemzug war in dem Raum nichts als Stille. „Shukran!“, rief Khepri, aber er war längst verschwunden. Maralen sah sie an, Tränen in den Augen. „Ich- ich war unten in der Halle. Eine Eule. Von Mayas Mutter.“ Ihre Stimme brach. „Khepri… Maya ist schwer krank.“ Khepri fühlte, wie die Welt unter ihr kippte. Wie der Boden ein Stück wegriss. „Was- was genau?“ Sie wusste kaum, wie sie es überhaupt zustande brachte, Worte zu formen. „Sie schreiben… sie wissen nicht, was es ist. Nur, dass es schnell schlimmer wird. Sie wollten, dass Shukran es sofort erfährt.“ Maralen schniefte. „Er hat ja nicht mal gewartet. Ist einfach weggerannt.“
Professor Flitwick stand nun auf seinen Büchern, so erschrocken wie überfordert. „Miss Khairy… Miss Khairy… Sie sollten- äh- vielleicht- “ Aber Khepri hörte ihn kaum noch. Sie nahm Maralen bei der Hand. „Wo ist er hingelaufen?“ „Keine Ahnung. Ich hab’s nicht gesehen.“
Natürlich. Shukran würde nicht zu ihr rennen. Nicht zu den Geschwistern. Nicht in die große Halle. Er würde zu genau zwei Menschen gehen:
Professor Sprout. Oder Dumbledore.

Khepri fand ihn nicht. Nicht in den Gewächshäusern, nicht in den Gängen, nicht in der Nähe des Hufflepuff Gemeinschaftsraumes. Er war überall und nirgends. Erst beim Abendessen sah sie es: Ein Gespräch am Lehrertisch. Dumbledore, ruhig. Sprout, sanft. Shukran, starr wie ein Gespenst. Und dann - als alle anderen Schüler schon tuschelten - wurde Shukran aus der Halle geleitet.
Sein Blick streifte Khepri nur einen Moment. Ein Moment, in dem sie sein Innerstes in seinen Augen brechen sah. Er sah aus, als hätte jemand sein Herz zerrissen und die Stücke zurückgelassen, ohne zu erklären, wie man sie wieder zusammensetzt. Sie sprang sofort auf, doch Sprout hob eine Hand. „Khepri“, sagte sie leise, warm, aber fest. „Er braucht dich später. Nicht jetzt.“ „Was-? Wohin geht er?“ Sprout atmete tief durch. „Er fährt heute Abend nach Hause. Dumbledore hat es erlaubt.“
Khepris Brust zog sich schmerzhaft zusammen. „Er hat mir nicht einmal was gesagt…“ „Er konnte nicht“, antwortete Sprout sanft. „Manchmal… gibt es Gedanken, die größer sind als Worte.“ Khepri sah zu, wie Shukran die Halle verließ.
Er drehte sich nicht um.

Die große Halle leerte sich langsam, Stimmen verklangen wie flüchtige Geister. Khepri stand allein neben der Slytherin-Tafel, unfähig, sich zu setzen, unfähig, ruhig zu atmen. Shukran war fort. Einfach fort. Ohne sie.
Sie wusste, dass das lächerlich war - er hatte Wichtigeres zu tun, viel Wichtigeres - aber ihr Brustkorb fühlte sich an, als wäre jemand mit einem altmodischen Korsett gekommen und hätte die Schnüre bis zum Anschlag zugezogen. „Khepri?“ Aaron stand da. Er hatte die Hände in den Taschen vergraben, den Blick unsicher. Ein Junge, der nicht wusste, wie er seine Schwester trösten sollte, aber es verzweifelt versuchte. „Ich hab’s jetzt auch gelesen,“ murmelte er. „Shukran hat’s im Hufflepuff-Flur fallen lassen.“ Khepri presste die Lippen zusammen. „Geht es Maya… sehr schlecht?“ Aaron nickte.
„Mrs. Bennett schreibt, dass sie seit mehreren Tagen hohes Fieber hat. Muggel-Heilkunst hilft nicht richtig. Magische Heiler können sie nicht sehen, weil sie Muggel ist. Und…“ Er verstummte. „Sie haben Angst.“
Ein kalter Schauer lief Khepri über die Arme. Aaron trat einen Schritt näher. „Ich glaube, Shukran wollte dich nicht rausschieben,“ sagte er leise. „Er war… einfach nicht mehr da.“ Sie blinzelte. „Ich weiß.“ Aber es tat trotzdem weh.
Aaron zögerte, dann nahm er ihren Arm - vorsichtig und gleichzeitig entschlossen, wie nur kleine Brüder es können. „Komm,“ sagte er. „Sekani wartet schon im Hufflepuff Gemeinschaftsraum. Er meinte, du sollst nicht alleine sein.“ Khepri nickte stumm und ließ sich von ihm führen.
Sekani saß auf der Sofa-Ecke, ein Buch auf den Knien, das er offensichtlich nicht las. Als sie hereinkam, stand er sofort auf. „Khepri.“ Nur ein Wort, aber seine Stimme schlug Risse in ihre Fassade. „Ich hab’s gehört,“ sagte er. „Ich hab’s… auch gespürt.“ Sie verstand im ersten Moment nicht. Dann begriff sie. Die Stimme. Natürlich.
In den letzten Wochen hatten die drei immer dann dasselbe unruhige Ziehen in der Brust verspürt, wenn etwas Dunkles im Schloss geschah. Etwas, das kroch. Etwas, das schlich. Etwas, das suchte.
Sekani trat näher, vorsichtig wie jemand, der weiß, dass Trost manchmal schmerzt. „Als Shukran gehen musste, war es… lauter.“ „Wirklich?,“ flüsterte Khepri. „Ich hab gar nichts mehr mitbekommen.“ Sie sank auf das Sofa, die Knie schwach, als würden sie den Halt verlieren. Aaron setzte sich zu ihr. Sekani vor sie. „Er kommt zurück,“ sagte Aaron. „Ich weiß nur nicht wann,“ murmelte Khepri. Ihre Stimme brach am Ende. Sie presste die Hände gegen ihr Gesicht. Ein Schluchzer löste sich - klein, erstickt, aber echt. Sie hatte seit Jahren nicht vor anderen geweint.
Sekani setzte sich neben sie, räusperte sich leise und sagte: „Wir sind Khairys. Wir brechen nicht einfach. Wir brennen.“ Sie lachte. Ein heiseres, angeknackstes, aber echtes Lachen. Dann holte sie das Amulett hervor. Es lag zwischen ihren Fingern - schwer, als wäre es plötzlich aus purem Stein. Schwerer als zuvor. Kälter als zuvor. Aaron beugte sich vor. „Es… sieht anders aus.“ Stimmt. Die Bruchstelle im Obsidian glomm. Ganz leicht.  Nicht hell genug, um zu leuchten - eher… wie Atem. Ein Ein- und Ausatmen. „Ich glaube, es reagiert auf starke Gefühle,“ murmelte Khepri. „Oder auf Verlust,“ fügte Sekani hinzu. Khepri schluckte.
Draußen donnerte es - ein plötzlicher, unerwarteter Schlag über dem See. Der Kamin flackerte. Und irgendwo tief in den Mauern Hogwarts erklang ein kaum hörbares Zischen.
Aaron erstarrte. Sekani ebenfalls. Khepri schloss die Hand fester um das Amulett. „Es wird schlimmer,“ flüsterte sie. Sekani nickte. „Und wir müssen herausfinden, warum.“

Der Schlafsaal der Slytherin-Mädchen lag in gedämpftem Grün, das kalte Licht der Unterwassermonde des Sees warf schimmernde Streifen über die Steinwände. Normalerweise fand Khepri diese Ruhe tröstlich. Heute fühlte sie sich an wie ein zu enger Mantel, aus dem sie nicht herauskam.
Shukran war weg.
Der Gedanke lag schwer in ihrer Brust, wie ein Stein, der nicht richtig atmete. Sie saß auf ihrem Bett, die Knie angezogen, den Kopf gegen die Wand gelehnt. Liliana schlief schon; selbst im Schlaf sah sie elegant aus. Khepri warf einen Blick auf sie und seufzte. Wie leicht Liliana in die Welt passte - und wie schwer plötzlich alles für sie selbst wurde. Ihre Hand glitt unbewusst zu dem Amulett an ihrem Hals. Das Messing war kalt. Kälter als sonst. Nicht tot-kalt - sondern… wartend.
„Nicht jetzt“, flüsterte sie heiser. „Bitte nicht jetzt.“ Das Objekt antwortete nicht. Es vibrierte nicht. Es pulsierte nicht. Und doch war da etwas. Ein Druck. Wie ein fremder Atem im Nacken. Sie drückte es fester an die Haut, als könnte sie es damit zum Schweigen bringen.
Keuchend unter dem pressenden Gefühl des Alleinseins riss sie sich das Amulett vom Hals - und bemerkte dann, dass das das erste Mal seit einem Dreivierteljahr war, dass sie es ablegte. Ihre Hand mit dem Anhänger zitterte, sie wusste nicht, ob sie es wieder anlegen sollte oder es einfach eine Weile unter ihre Matratze stecken, aber schließlich stopfte sie es einfach unter ihr Kissen und wich fluchtartig zurück.
„Shukran…“, murmelte sie, der Schmerz in ihrer Stimme knackte hörbar. „Wie soll ich dir helfen, wenn ich nicht mal weiß, wie ich mir selbst helfen soll?“ In der Dunkelheit glaubte sie ein leises Zischen zu hören - nicht die Stimme Hogwarts’, nicht die Präsenz ihres Urgroßvaters, sondern etwas tieferes, wie Sand, der durch Finger rinnt. Sie atmete scharf ein und rannte aus dem Schlafsaal. „Nicht heute“, keuchte sie, „nicht ohne ihn.“ Doch ihre Gedanken ließen sie nicht los.
Shukrans blasser Blick, die Verzweiflung darin. Sein lautloser Gang neben Dumbledore. Maralens Tränen. Sekanis stille Sorge. Und das Schlimmste: Der Gedanke, dass sie nicht bei ihm war, als er zusammenbrach. Die Schuld nagte an ihr, ein kaltes Tier in ihrem Brustkorb.
Der Gang vor der Slytherin-Gemeinschaftsraumtür lag still. Nur die Fackeln knisterten. Khepri lehnte sich gegen die Steinwand und ließ die Augen schließen. Sie brauchte Luft. Sie brauchte… sie wusste es nicht. Shukran, vermutlich, aber er brauchte Maya gerade mehr und sie war siebzehn Jahre alt. Sie sollte in der Lage sein, allein klarzukommen. Sie konnte sich nicht immer an seinem Hemdzipfel festhalten.
Dann hörte sie Schritte. „Khepri?“ Marcus. Natürlich Marcus, immer Marcus! Er stand ein paar Meter entfernt, halb im Schatten, halb im flackernden Licht. Die Stirn in Falten. Die Schultern angespannt.
„Ich… hab gehört, was passiert ist“, sagte er ungewohnt vorsichtig. „Mit deinem Bruder.“ Sie nickte stumm, zu müde für Ärger, zu wund für Sticheleien. Marcus atmete langsam aus. Dann trat er näher - nicht zu nah, aber nah genug, dass seine Gegenwart wie eine warme Welle an sie heranrollte. „Du hättest ihn nicht aufhalten können.“ Seine Stimme war rauer als sonst. „Egal, was du glaubst.“ „Ich hätte… ich weiß nicht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich hätte ihn sehen müssen. Wenigstens das.“ „Er wusste, dass du ihn ansiehst“, murmelte Marcus. „Das reicht manchmal.“ Sie sah hoch. Sein Blick wich ihrem nicht aus. Ein Moment, der zwischen ihnen hängen blieb wie ein hauchdünner Faden. „Wenn du reden willst… oder schreien… oder jemanden brauchst, der dir sagt, dass du nicht schuld bist-“ Er räusperte sich hart, als sie laut schluchzte, und nahm sie unbeholfen in den Arm . „Dann… äh… bin ich nicht gut darin. Aber ich bin da.“ Khepri blinzelte, überrascht, überrollt, ein wenig verwirrt.
Marcus ließ sie wieder los und wandte sich ab, als hätte er zu viel gesagt. „Es wird… wieder besser“, murmelte er. „Auch wenn’s gerade nicht so aussieht.“ Er machte ein paar Schritte Richtung Gemeinschaftsraum, stoppte aber wieder. „Und…“ Er sah zurück, nur ein Augenblick, aber warm. „Du bist nicht allein, Khepri.“ Dann verschwand er.
Khepri stand da, das Herz zu schwer und zu leicht zugleich. Nicht allein. Zum ersten Mal seit Shukrans Abreise glaubte sie es ein winzig kleines Stück.

Khepri war viel zu früh wach. Viel zu früh - und doch zu spät, um unauffällig zu sein. Ihre Augen fühlten sich schwer an, die Nacht hatte kaum mehr als ein paar wenige zerrissene Stunden Schlaf für sie übrig gehabt. Sie hatte das Amulett noch immer nicht wieder angefasst. Liliana saß bereits auf der Fensterbank und briet Khepri mit einem Blick, der viel zu scharf für diese Uhrzeit war. „Guten Morgen?“, versuchte Khepri vorsichtig. Liliana sagte nichts. Gar nichts. Sie legte das Buch beiseite, verschränkte die Arme und hob langsam eine Augenbraue. „Okay“, murmelte Khepri, „fang nicht so an.“ „Doch,“ sagte Liliana. „Ich fange genau so an.“ Sie trat auf Khepri zu, bis sie nur noch eine Armlänge entfernt stand. „Du bist mitten in der Nacht aus dem Schlafsaal gestürzt, hast mich aus dem Bett geschreckt, bist eine Viertelstunde weg gewesen, kommst mit rotgeweinten Augen zurück und tust so, als wäre nichts passiert.“ Noch dichter: „Und DANN hör ich heute früh - glaubst du, ich überhöre sowas? - dass Marcus Flint dich im Gang ‚Khepri‘ nennt, als hättet ihr zusammen ein gemeinsames Vorzelt beim Sommerlager bezogen!“ Khepri kniff die Augen zusammen. „Ich- wir- er hat nur- “ „Er hat dich umarmt! Und ich erfahre das ausgerechnet durch Pansy Parsinson!“ Liliana tippte ihr gegen die Stirn, eindeutig etwas eingeschnappt, dass Khepri ihr das nicht selbst erzählt hatte. „Und du schaust seitdem so aus, als hättest du im Schlaf ein Einhorn geküsst und bereust es jetzt.“ Khepri sank an die nächste Rückenlehne. „Okay. Ja. Er hat mich umarmt.“ Eine Pause. „Ich war… fertig. Wegen Shukran. Wegen allem.“ Lilianas Stimme wurde sanfter - das war das Gemeinste von allem. „Hat es dir gutgetan?“
Khepri antwortete nicht sofort. Nicht, weil sie nicht wusste, wie - sondern weil ihr Antworten schwerfiel, wenn sie ehrlich sein musste. „Ja“, flüsterte sie schließlich. „Aber ich versteh nicht, warum.“ Liliana lächelte wissend.  „Du magst ihn.“ „Ich mag ihn NICHT.“ Marcus Flint war ein unsensibler Troll, der nur Spaß daran hatte, sie zu ärgern. Wie hätte sie ihn bloß mögen sollen? „Du magst ihn sehr.“ „Ich mag ihn absolut gar nicht und außerdem-“ „Schau mich an und sag das nochmal.“ Khepri schloss die Augen. Sie musste sich eingestehen, dass er sich irgendwie verändert hatte. Wie er auf sie aufzupassen schien, sich Sorgen machte - und die Umarmung gestern Nacht hatte sehr wohl etwas in ihr ausgelöst, von dem sie sich immer noch gern einreden wollte, dass es nichts bedeutete. „Ich mag ihn ein bisschen.“, gab sie zu. Liliana schob ihr triumphierend einen Keks in die Hand. „Willkommen im Club der Katastrophen.“

Der Frühstückstisch war laut und lebendig wie immer, doch für Khepri fühlte sich alles gedämpft an. Marcus saß wie gewohnt mit Adrian Pucey und Warrington; sie sah ihn sofort, aber zwang sich, nicht hinzusehen. Natürlich sah sie trotzdem hin. Er sah sie auch. Mist.
Er stand auf, kam herüber - nicht direkt zu ihr, aber nah genug, dass sie automatisch die Schultern straffte. „Kha- Khepri.“  Er korrigierte sich, offensichtlich unzufrieden, wie weich sein eigener Tonfall klang. „Alles klar heute?“ Adrian, der hinter ihm saß - aber natürlich trotzdem alles mitbekam - riss erstaunt die Augen auf. Marcus schubste ihn gegen die Schulter, ohne den Blick abzuwenden. Khepri nickte schnell. „Ja. Danke.“
„Wenn du… etwas brauchst.“ Er räusperte sich. „Sag’s.“ Dann ging er zurück zu Adrian, als wäre ihm plötzlich bewusst geworden, was er da tat. Sein Nacken war rot. Liliana trat neben Khepri. „Sag mal, hast du ein Abo für den dramatischen Kerl?“ Khepri stöhnte.

Die Unruhe wuchs. Kein Brief. Kein Wort von Shukran, Maya oder ihrer Familie. In den Nächten hörte sie das Flüstern lauter - nicht nur die Zischstimme, sondern auch das andere, das sandige, das warme und traurige, es kam von dem Amulett, das noch immer unter ihrem Kissen lag. Jedes Mal, wenn sie die Hand danach ausstreckte, fühlte es sich an wie ein Fehler.
Aaron und Maralen setzten sich in den Pausen zu ihr und brachten ihr Tee. Sekani checkte regelmäßig den Astronomieturm für Eulenpost. Sara schrieb aus Ravenclaw kleine Notizzettel:
Shukran kommt zurück.
Wenn nicht morgen, dann übermorgen.
Wir sind bei dir. – S.
Trotzdem… Khepri fühlte sich wie ein Zimmer ohne Fenster, nur mit Schatten und Zischen in den Wänden. Ihr Zaubertränkebuch blieb unaufgeschlagen. Runenflugblätter fielen aus der Tasche. Sie konnte sich kaum konzentrieren, weder auf Unterricht noch auf Marcus’ verwirrend neue Freundlichkeit. Und Liliana bemerkte alles. „Du musst wieder essen“, mahnte sie. „Und du musst endlich dieses Amulett wieder anlegen.“ Khepri starrte auf ihre Hände. „Ich kann nicht.“
Khepri wartete auf ein Zeichen aus der Welt außerhalb Hogwarts - aber alles, was kam, war Stille.

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.

Erstelle deine eigene Website mit Webador