Aus dem Tagebuch von Khepri Khairy I – 17. Dezember 1934
Ich weiß nicht, ob ich diese Zeilen jemals wieder lesen werde. Oder ob überhaupt jemand sie finden soll. Das Zimmer hier ist still, viel zu still. Die Stille frisst. Sie frisst meine Gedanken, frisst meine Erinnerungen an England, an die Wälder, an den Geruch des alten Hauses, an seine Hände, an seine Stimme. An meinen Mann.
Ich spüre noch seine Finger an meinen Wangen, als sie mich fortgezerrt haben. Wie er meinen Namen gerufen hat. Wie ich ihn schreien hörte, bevor die Welt schwarz wurde. Und dann… nichts mehr.
Nur Hitze. Sand. Und diese Mauern.
Ich weiß nicht, wie viele Tage vergangen sind. Vielleicht Wochen. Vielleicht nur Stunden, die sich wie Jahre dehnen.
Ich habe versucht zu fliehen. Einmal. Ich wusste, es würde nicht funktionieren, aber ich musste es versuchen. Für ihn. Für uns. Für unser Kind.
Teremun schläft gerade in meinen Armen. Er ist so klein, so warm. Er hat Morfins Augen, nur heller. Wenn ich ihn ansehe, bricht mir das Herz. Er wird seinen Vater nicht kennen.
Ich habe heute zum ersten Mal laut geweint. Nicht wegen der Mauern. Nicht wegen der Wachen. Nicht wegen der Ketten, die man mir nicht anlegt, weil ich ja „vernünftig“ bin. Ich habe geweint, weil ich seine Stimme nicht mehr höre.
Morfin. Wenn du noch lebst… verzeih mir. Verzeih mir, dass ich nicht zurückkomme. Ich würde durch ganz Britannien kriechen, durch das Moor, durch die Wälder, bis zu unserem Treffpunkt am alten Baum… wenn ich könnte.
Aber sie lassen mich nicht. Sie sagen, sie tun es aus Liebe. Dass eine Khairy nicht mit einem Gaunt leben darf. Dass unsere Blutlinien nicht… zusammengehören. Aber wir waren glücklich. Wir waren wahr. Wir waren stärker als all ihre Gesetze.
Ich habe Angst, dass Teremun eines Tages nur die Geschichten hören wird, die sie über dich erzählen. Dass er glaubt, du wärst ein Monster. Dass er nie erfährt, dass du mich geliebt hast. Dass du uns geliebt hast.
Ich werde es ihm erzählen. Irgendwann. Wenn ich kann. Wenn man mich lässt. Wenn wir hier jemals wieder fortkommen.
Mein Sohn… er hat meine Tränen bemerkt. Er streckt seine kleine Hand nach meinem Gesicht aus. Wie du, Morfin. Ganz wie du. Ich bete zu jedem Gott, den ich kenne, dass er unsere Wege eines Tages wieder kreuzt.
Oder wenigstens, dass du weißt: Ich habe dich nicht verlassen. Man hat mich genommen.
Und ich werde niemals aufhören, dich zu suchen. Nicht im Traum. Nicht im Staub. Nicht im Sand. Niemals.
Khairy Manor im Sommer war ein eigenes kleines Universum. Die Luft vibrierte vom Zirpen der Grillen, das hohe Gras im Garten wogte wie ein grünes Meer, und aus der Küche drang der vertraute Klang von klirrendem Geschirr, halblauten Streitereien über Rezepte und dem Lachen, das zu dieser Familie gehörte wie die Wände zu ihrem Haus. Khepri stand am offenen Fenster ihres Zimmers und beobachtete, wie die Sonne langsam hinter den Bäumen versank. Der Himmel glühte in bernsteinfarbenen Tönen - genau die Farbe, die sie mit Zuhause verband.
Unten im Innenhof rannten Aaron und Maralen um einen Wassereimer herum, Sekani versuchte erfolglos, Sara dazu zu bringen, ihre Hausaufgaben für die Ferien rechtzeitig zu beginnen, und irgendwo donnerte etwas um - vermutlich Shukran, der wieder einmal versuchte, Maya für Besenflug zu begeistern. Maya, die endlich wieder vollständig genesen war.
Khepri lächelte. Alles fühlte sich warm an. Voll. Richtig. Und trotzdem lag dort etwas gespannt in der Luft. Wie der Moment kurz bevor ein Sturm aufzieht, nur ohne Wind. Eher wie eine Erwartung.
Sie strich über den Stoff ihres Sommerkleides und atmete tief durch. Es war der erste Tag seit ihrer Ankunft, an dem das Amulett sich nicht anfühlte wie eine Last. Seit sie es nach Hogwarts-Zeit endlich wieder angelegt hatte, war sein Gewicht vertraut gewesen. Heute allerdings summte es leise. Nicht warnend oder fordernd, eher wie eine schnurrende Katze auf ihrem Brustbein.
„Khepri?“ Liliana erschien in der Tür, die Locken wie immer makellos perfekt, dieses Mal jedoch mit einer roten Blume darin, die eindeutig aus dem Khairy-Garten stammte. „Ich wollte schauen, ob du fertig bist,“ sagte sie. „Dein Opa hat mich gebeten, dir auszurichten, dass alle unten warten.“ „Alle?“, fragte Khepri und blinzelte. „Ja. Wirklich alle. Sogar Onkel Amir hat seinen Schreibtisch verlassen.“ Liliana trat näher, senkte ihre Stimme.
„Und deine Téta ist heute seltsam ruhig. Ich meine wirklich ruhig. Als würde sie etwas großes vorbereiten.“ Khepris Herz schlug schneller. „Sie hat mir im Winter etwas versprochen,“ murmelte sie. Liliana nickte langsam. „Ich weiß. Ich glaube, heute ist der Tag.“
Khepri atmete ein, als müsse sie sich sammeln. „Wie sehe ich aus?“ „Als würdest du Antworten bekommen.“
Liliana lächelte warm, nahm Khepris Hand und zog sie sanft aus dem Zimmer.
Die große Treppe des Anwesens war in goldenes Licht getaucht. Familienbilder blickten auf sie herab, alle vier Generationen von anwesenden Khairys, die alle stark, würdevoll, stolz wirkten.
Manchmal fragte sich Khepri, ob sie eines Tages auch so wirkend hier händen würde. Mit Shukran. Mit… wer auch immer ihr Leben kreuzen würde.
Ihr Schritt wurde schwerer, je näher sie der unteren Etage kamen. Als sie die letzte Stufe erreichte, hörte sie das Stimmengewirr verstummen. Sie trat in den Salon - und blieb kurz stehen. Wirklich alle waren da.
Shijia saß neben Caleb.
Onkel Amir mit Anastasia und Tante Zara mit Jonathan auf den Sofas rechts und links, die Kinder auf Sessel, Teppiche und Kissen auf dem Boden verteilt. Sogar Maya, mit einer Decke über den Knien, saß in einem bequemen Sessel mit Shukran, der auf der Sessellehne saß und ihr ein kleines, beruhigendes Lächeln schenkte. Opa Teremuns imposante Gestalt nahm den anderen großen Sessel im Raum ein.
Vor den zwei bodentiefen Fensterfronten saß Téta Khepri. Aufgerichtet. Majestätisch.
Ihre weißen Haare im Knoten, das Gesicht voller Linien eines langen, gelebten Lebens. Und in ihren Händen hielt sie ein altes, abgegriffenes Buch.
„Meine Kinder,“ begann sie, „kommt und setzt euch.“ Ihre Stimme hatte Gewicht. Mehr als sonst. Ein Gewicht, das Khepri in den Knochen spürte.
Alle fanden ihre Plätze. Khepri nahm zusammen mit Liliana Platz auf einer weiteren Kissenansammlung, vor sich der schwere Klang von Erwartung. Téta blickte in die Runde. Ihre Augen blieben einen Moment zu lange auf Khepri ruhen.
„Es ist Zeit,“ sagte sie leise, „dass ihr erfahrt, wer wir sind.“
Die Khairys waren still. Kein Rascheln, kein Tuscheln, kein Kichern der jüngeren Kinder. Nur der flackernde Schein der Öllampen und das sanfte Knistern des Kaminfeuers erfüllten den Raum. Téta Khepri saß in ihrem alten Sessel, der schon fast ein eigenes Wesen zu sein schien, und legte beide Hände auf das geschlossene Buch in ihrem Schoß. Ihr Blick wanderte durch die Reihen ihres Sohnes, ihrer Enkel und Urenkel - und blieb zuletzt auf Khepri ruhen. „Ihr seid alt genug,“ sagte sie leise, „um die Wahrheit zu hören. Eine Wahrheit, die ich viel zu lange mit mir herumgetragen habe.“ Khepri schluckte und setzte sich aufrechter hin. Ihr Herz klopfte wie ein zweiter Herzschlag des Amuletts.
Téta begann.
„Ich bin im Jahre 1900 geboren worden - als erstes Kind einer sehr mächtigen, sehr stolzen und sehr starren Familie.“ Ein paar der Jüngeren rückten näher.
„Die Khairys von damals,“ fuhr sie fort, „waren nicht die Khairys, die ihr heute seid. Kein Lachen, kein Durcheinander, keine Freiheit. Nur Regeln. Rang. Reichtum. Und Erwartungen… so hoch wie die Mauern unseres alten Hauses.“ Sie lächelte schwach.
„Ich hatte trotzdem eine schöne und erfüllte Kindheit. Ich wurde geliebt. Ich war klug, begabt, behütet. Aber ich war auch… unruhig.“ Ihre Augen glitten für einen Moment durch das Fenster, als könnte sie die Welt aus ihrer Jugend noch einmal sehen. „Nach meiner Schulzeit an der Zaubererakademie hat mich der Weltschmerz gepackt. Ich wollte die Welt sehen. Nicht nur die, die mir durch Blut und Ehre zustand.“ Shukran hörte gebannt zu; Maya hielt seine Hand.
„Meine Eltern wollten nicht, dass ich meinen angestammten Platz als ihre Erbin verlasse. Ich hatte zwei Brüder, die jede erdenkliche meiner Aufgaben hätten übernehmen könnten. Ich flehte sie elendig lange an. Als ich zweiundzwanzig wurde gaben meine Eltern endlich nach - schweren Herzens. Fünf Jahre sollte ich reisen. Fünf. Auf gar keinen Fall mehr.“ Sie hob einen Finger. „Ich versprach ihnen, an meinem siebenundzwanzigsten Geburtstag zurückzukehren.“
Khepri flüsterte kaum hörbar „Du bist nicht zurückgekommen.“
„Nein,“ sagte Téta und schüttelte leise den Kopf.. „Denn ich fand nicht eine Welt… ich fand ein Leben.“
Die Flammen im Kamin knackten, ein Funken stob auf. „Ich kam nach England und verliebte mich sofort in dieses Land. Nicht wegen des Adels, nicht wegen des Zaubererstandes… sondern wegen des Regens.“ Lachen huschte durch die Runde. „Und eines Tages, nach einem Besuch einer Ausstellung in einem Herrenhaus begegnete ich ihm.“ Sie schloss die Augen. „Morfin Gaunt.“
Sekani hielt den Atem an. „Er trug ein viel zu schweres Bündel auf dem Rücken und wäre fast zusammengebrochen. Ich half ihm, töricht, wie ich damals war, mit Magie. Und er schrie mich an, ich solle das lassen. Er wolle seine Arbeit ehrlich verdienen. Ich hatte noch nie einen Mann wie ihn gesehen.“
Ein seltsames Leuchten erschien in ihren alten Augen. „Wild, ungehobelt, vernarbt von einem Leben, das ihn zerbrochen hatte. Unhöflich, misstrauisch, bitter. Und dennoch…“ Sie legte sich eine Hand aufs Herz. „Er war ehrlich. Ehrlicher als alle, die ich in meinen goldenen Sälen in Ägypten je gekannt habe.“
Sie erzählte von seiner trostlosen Hütte. Von seiner einsamen Existenz. Von dem Mann, der nach Jahren in Askaban und dem Verlust seiner Familie kaum mehr Hoffnung kannte. „Ich blieb bei ihm,“ flüsterte sie. „Tag für Tag. Ich half ihm, aufzuräumen, zu essen, zu leben. Und irgendwann lernte ich, ihn zu lieben.“ Khepri fühlte, wie ihre Kehle eng wurde.
„Wir heirateten im Verborgenen. Und als Teremun geboren wurde, war ich glücklicher, als ich jemals hätte sein dürfen.“ Eine Träne glitt über ihre Wange. „Aber mein Glück war nicht dazu bestimmt, zu bleiben.“ Sie holte tief Luft, als würde das, was als nächstes kam, ihr undenkbar viel Schmerz zufügen. „Ich war zwölf Jahre weg gewesen. Länger als erlaubt.“
Die Spannung im Raum wurde greifbar. „Meine Familie suchte mich; nicht aus Liebe, nein. Aus Besitzanspruch.“ Ihre Stimme wurde hart. „Sie kamen in der Nacht. Sie verwüsteten unser Haus. Sie verletzten Morfin schwer. Und sie nahmen mich und mein Baby mit Gewalt mit zurück nach Ägypten.“ Aaron sog scharf die Luft ein.
„Sie sperrten mich ein, jahrelang. Ich versuchte zu entkommen, aber ich versagte. Ich machte mir jeden Tag Sorgen, ob Morfin noch lebte. Da man mir niemals irgendeine Information über die Außenwelt mitteilte hätte er nach meinem Wissensstand gestorben sein können.“ Eine Pause. Nur das Knistern des Feuers.
„Aber Morfin lebte und er suchte nach uns. Er suchte überall. Aber irgendwann musste er aufgeben. Er war allein. Ohne Hoffnung.“ Ihre Stimme brach fast. „Und die Einsamkeit nahm ihm den Verstand.“
Maya drückte Shukrans Hand fester.
„Später wurde er für den Mord an der Familie, der damals das Herrenhaus gehörte, nach Askaban gebracht.. Er starb dort vor zwölf Jahren, allein und gebrochen.“ Khepri fühlte Tränen in den Augen brennen.
„Mir gelang irgendwann die Flucht. Ich nahm dich, Teremun, und ich floh. Ich fand unsere kleine Hütte verlassen. Und das Amulett, das wir zusammen erschaffen hatten, das unsere Familie schützen sollte… gebrochen. Es war in dem Moment gesplittert, als ich nach Ägypten verschleppt wurde.“ Khepris Finger strichen über den Anhänger auf ihrer Brust.
„Ich glaubte dem Dorf, das mir erzählte, dass Morfin ein Mörder geworden sei. Ich glaubte es… zu lange.“ Ihre Stimme zitterte zum ersten Mal. „Ich ging nie wieder zurück.“
„Woher weißt du das alles?“ flüsterte Khepri. Téta sah auf ihre faltigen kaffeebraunen Hände hinunter.
„Albus Dumbledore hatte offenbar immer an seine Unschuld geglaubt und sie schließlich auch beweisen können. Er besuchte mich hier und sagte mir die Wahrheit, dass Morfin unschuldig war. Dass ich jahrelang an das Falsche geglaubt hatte. Ich weinte. Um ihn. Um mich. Um alles, was wir beide so früh schon verloren haben.“ Wie als würde sie diesen Moment in ihrem Kopf erneut durchleben kullerte eine einzelne Träne über ihre Wange. „Dies, meine Lieben,“ sagte sie erstickt, „ist die Geschichte eures Erbes. Nicht das eines Monsters. Nicht das eines verfluchten Namens.“ Ihre Stimme wurde klar, kräftig, durchdringend. „Sondern die Geschichte eines Mannes, der geliebt hat - trotz aller Umstände, die gegen ihn waren. Und die Geschichte einer Frau, die ihre Familie retten wollte. Ihr seid die Erben dieses Muts, dieses Verlusts und dieser Hoffnung.“
Ihre Augen ruhten auf Khepri. „Und du, mein Herz, du hast den Teil von ihm geerbt, den ich am meisten liebte.“
Khepri spürte das Amulett pulsieren. Einen Schlag. Zwei. Es war, als ob Morfin selbst aufatmete.
Die Familienrunde hatte sich nach vielen beantworteten Fragen langsam aufgelöst. Kinder wurden ins Bett geschickt, die Erwachsenen wanderten in kleinen Grüppchen davon, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Nur das Kaminfeuer brannte weiter - geduldig, warm, vertraut.
Teremun blieb als Letzter zurück. Er stand eine Weile schweigend neben dem Sessel seiner Mutter, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Er war ein Mann, der sonst niemals zögerte, aber jetzt… jetzt war da Unsicherheit in jedem Atemzug. „Mama?“ fragte er leise.
Khepri I hob ihren Kopf. „Ja, mein Sohn?“ Er ging um den Sessel herum und kniete sich vor sie, so wie er es als kleiner Junge getan hatte, und nahm zaghaft ihre Hände. Ihre alten Finger zitterten, als erführe sie gerade jetzt erst, wie schwer diese Wahrheit auf ihm gelastet hatte. „Du hast gesagt… er hat mich geliebt.“ Eine Aussage, kein Zweifel. Aber seine Stimme bebte.
Die alte Hexe lächelte traurig. „Mehr, als Worte eines Zauberers fassen könnten.” sie strich ihrem Sohn liebevoll über die Wange. “Erinnerst du dich an ihn?“ Er schloss die Augen. „An sein Gesicht? Seine Stimme? Ich habe mich so oft gefragt, ob ich je wirklich einen Vater hatte, oder ob er nur… ein Fehler war, über den niemand sprechen wollte.“ Khepri I zog scharf die Luft ein - nicht nur aus Schmerz, sondern auch aus Schuld. „Teremun,“ flüsterte sie, und ihre Stimme war ein Hauch von Vergangenheit, „er war kein Fehler. Und du schon gar nicht.“ Sie nahm sein Gesicht in beide Hände, als müsse sie ihn davon überzeugen. „Du warst sein Lachen, sein Licht, das erste, was ihn seit Jahren glücklich gemacht hat. Er hielt dich, als wärst du ein Wunder, das er nicht zu fassen wagte. Ich habe ihn nie so lächeln sehen, bevor du da warst.“ Teremuns Schultern sanken. Er presste die Lippen zusammen, um das Zittern zu verbergen.
„Warum hast du mir nie erzählt, wie er…“ Er suchte nach Worten. „Wer er war?“ Khepri schloss die Augen. Ein Atemzug, schwer wie Jahrzehnte. „Weil ich dachte, es würde dich beschützen.“ Sie öffnete die Augen wieder, nun glanzvoll vor Tränen. „Der Name Gaunt ist in der Zaubererwelt ein Fluch. Er trägt den Ruf von Dunkelheit, Armut, Blutreinheit und Gewalt. Er hätte dein Leben gefährlicher gemacht - nicht leichter.“ Er senkte den Blick. „Und weil ich glaubte, dass du es mir nie verzeihen könntest, dass er in Askaban gestorben ist… allein… während ich an die Geschichten des Dorfes geglaubt habe.“ Teremun schüttelte den Kopf. „Du hast getan, was du konntest. Und du warst allein. Und…“ Er berührte kurz ihre Hände.
„Ich kenne dich, Mama. Du hättest niemals aufgehört zu lieben.“ Ein Laut, zwischen Schluchzen und Lachen, entkam ihr. „Ich wollte dir seine Geschichte erzählen, wenn du älter wärst. Wenn du stark genug wärst, sie zu tragen. Aber dann…“ Sie sah auf den Boden, wo das goldene Licht des Feuers ihre Schatten streckte. „Dann wurde es immer schwerer. Immer komplizierter. Und irgendwann wurde die Geschichte so alt, dass sie fast wie ein Fluch auf meiner Zunge lag.“ „Warum jetzt?“ „Weil deine Enkelin eine Verbindung zu ihm gefunden hat,“ sagte sie leise. „Weil das Amulett ihn geweckt hat. Und mit ihm all die Dinge, die ich verborgen habe.“ Teremun schwieg. Lange.
Dann legte er seinen Kopf in ihren Schoß, wie ein Junge von sechs und nicht ein Mann mit silbernen Schläfen. „Ich bin froh,“ murmelte er in den Stoff ihres Kleides, „dass er mich geliebt hat.“
Khepri I strich ihm durchs Haar, langsam, sanft. „Mehr als sein eigenes Leben.“ Das Feuer flackerte, als hätte es eine Bestätigung zu geben.
„Und ich werde dir alles erzählen, Teremun. Alles, was ich weiß. Wie er aussah. Wie er sprach. Wie er gelacht hat. Was er für Fehler gemacht hat… und warum er dennoch ein guter Mann war.“ Sie hob sein Kinn an, bis sich ihre Blicke trafen. „Dein Vater war kein Monster.“ Ihre Stimme wurde zu einer alten, unverrückbaren Wahrheit. „Er war ein Mann, der geliebt hat. Und der geliebt wurde.“ „Von dir?“ Ein schwaches, gebrochenes Lächeln war die Antwort. „Mit jedem Atemzug.“ Teremun schloss die Augen.
Und in diesem Moment, in diesem winzigen, stillen Raum der Offenbarung, heilte etwas in beiden. Ein Riss, alt wie Jahrzehnte. Ein Schmerz, der endlich zu ruhen begann.
Khepri saß im Halbdunkel ihres alten Schlafzimmers, die Knie unters Kinn gezogen, das Gesicht halb im Kissen vergraben. Der Mond schien durch die schweren Vorhänge und malte streifige Muster auf den Boden, als wären es Spuren von Sand.
Sie war der Erzählung gefolgt. Nicht absichtlich - ihre Füße hatten sie einfach zurück in den Flur getragen, als wäre sie selbst nur ein Faden, den die Geschichte mit sich gezogen hatte. Und dann hatte sie im Schatten der Tür gestanden. Still, atemlos, lauschend.
Die Worte ihrer Téta hatten sich in ihr festgekrallt, jedes einzelne wie ein Funken, der irgendwo ganz tief etwas in Brand setzte. Jetzt, allein, wusste sie nicht, was brannte: ihr Herz, ihr Stolz, oder ihr Erbe.
Sie wischte sich über die Augen. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie weinte.
„Mein Urgroßvater…“ Die Worte klangen fremd in der Stille. „…war kein Monster.“
Sie sagte es laut, als müsste sie es der Dunkelheit beweisen. Sie wusste so wenig über ihn. Über Morfin. Über den Mann, der halb Legende, halb Warnung, halb verlorener Schatten war.
Aber sie wusste jetzt etwas Entscheidendes: Er hatte geliebt und er war geliebt worden. Nicht aus Macht oder aus Zwang oder aus dunklen Obsessionen, wie die Geschichten über die Gaunts es immer hatten klingen lassen, sondern wirklich. Ehrlich.
Und sein Sohn - ihr Großvater - war nicht die Folge eines Fluchs, sondern das Kind zweier Welten, die einander gefunden hatten, trotz allem. Sie hob das Amulett vorsichtig an. Der gebrochene Obsidian fing das Mondlicht und warf ein einziges grünes Funkeln zurück.
„Du willst, dass ich das weiß, oder? Du hast mich geführt.“ Es vibrierte leicht, nur einen Herzschlag lang, wie ein bestätigendes Streicheln aus einer Zeit, die niemand mehr kannte.
„Ich werde dich nicht vergessen,“ flüsterte sie. „Keinen von euch. Nicht ihn. Nicht sie. Nicht das, was ihr verloren habt.“
Ihre Fingerspitzen glitten über den Bruch in der Mitte des Steins. Der Bruch war kein Makel. Er war Zeugnis. Zeugnis eines Lebens, das auseinandergerissen worden war - genau wie die Familie.
Aber Khepri spürte es tief in sich, ganz plötzlich: Dieser Bruch war nicht das Ende dieser Geschichte. Er war der Anfang.
Sie stand auf, langsam, als würde sie sich neu sortieren. Ihr Spiegelbild im Fenster sah irgendwie älter aus. Nicht müde. Nicht gebrochen. Ein bisschen… würdevoller.
Sie band das Amulett wieder um ihren Hals. „Ich werde dich zu Ende tragen,“ sagte sie leise. „Euch beide.“
Sie dachte an Morfins Augen, die sie nie gesehen hatte. An das Leben, das er nie führen durfte und an die Jahre, die zwischen ihm und seiner Wahrheit lagen, all die Jahre, die er allein und verzweifelt auf die Rückkehr seiner Familie gewartet und schließlich die Hoffnung verloren hatte.
Sie legte eine Hand über das Amulett. „Ich bin bereit.“
Und draußen, ganz weit unten im Garten, wehte ein warmer Windstoß über die Hügel, obwohl keine Brise angekündigt war. Als würde etwas oder jemand bestätigen: Endlich.
Khepri I schlief in dieser Nacht ohne Widerstand ein. Vielleicht, weil das Erzählen sie müde gemacht hatte. Vielleicht, weil das Verbergen sie so lange noch müder gemacht hatte. Oder vielleicht, weil die Wahrheit endlich ausgesprochen zwischen ihnen lag wie ein geöffnetes Fenster, durch das frische Luft strömte. Sie sank in den Traum, ohne den Übergang zu merken.
Zuerst war da nur Sand. Warm. Leise. Ein vertrautes Rascheln wie damals, als sie jung gewesen war und unter der Sonne Ägyptens gelächelt hatte. Dann hörte sie einen Atemzug.
Einen, den sie seit Jahrzehnten nicht mehr gehört hatte. „Khepri…“ Die Stimme war rau, aber nicht verwirrt. Nicht gebrochen, nicht gequält. Nur warm. Nur seine. Sie drehte sich um - und dort stand er. Morfin. Nicht der Morfin, der im Dorf geächtet worden war. Nicht der Morfin, der schmutzig und gezeichnet vom Leben gewesen war. Nicht der Morfin, der in Askaban gestorben war. Sondern der Morfin, den nur sie gekannt hatte.
Ein junger Mann, dessen Augen schief standen, dessen Haar unordentlich war, dessen Gesicht markant und rau - aber dessen Blick voller Güte war, voller Geschichten, voller ungestellter Wahrheit. Der Mann, den sie geliebt hatte. „Ich habe dich vermisst,“ sagte er.
Khepri atmete scharf ein. Ihre Hand schnellte zu ihren Lippen, als könne sie den Laut darin festhalten. „Morfin… ich…“ Ihre Stimme brach. „So lange… so viele Jahre… ich habe geglaubt, du… ich dachte…“
Er hob eine Hand. Berührte ihre Wange - warm, so warm, wie seine Hände früher gewesen waren, wenn er nach der Arbeit zurückkam, nach Erde roch und sie lachend in die Arme gezogen hatte. „Ich weiß,“ sagte er leise. „Und ich vergebe dir.“ Sie schloss die Augen, ließ die Tränen laufen, die sie seit fünfzig Jahren zurückgehalten hatte. Als sie wieder hinblickte, sah sie den Spiegel. Ein großer, klarer, schimmernder Spiegel, der im Nichts stand, als hätte die Welt selbst ihn gezeichnet. Und darin- sah sie sich selbst. Jung. Lachend. Mit Baby Teremun im Arm, der strampelte und gluckste. Morfin stand neben ihr, seine Hand auf ihrem Rücken, und das Spiegelbild zeigte eine Zukunft, die nie stattgefunden hatte:
Ihr kleines Haus, warm und voll Licht. Teremun, wie er laufen lernte. Wie Morfin ihn auf die Schultern hob. Wie sie zusammen kochten. Wie sie sich stritten und wieder versöhnten. Wie sie alt wurden. Ein ganzes Leben. Eine ganze Welt, die hätte sein können.
Khepri sah zu Morfin hoch. „Warum zeigst du mir das…?“ Er lächelte schwach. „Damit du weißt, dass wir es gelebt hätten, wenn man uns gelassen hätte.“ Sie nahm seine Hand. Sie passte immer noch perfekt um ihre. „Ich wollte… ich wollte dich retten. Ich habe dich verloren.“ „Nein,“ sagte er. „Man hat uns getrennt. Du hast mich nicht verloren.“ Er neigte die Stirn an ihre. „Und du hast mich nie verlassen.“
Der Spiegel verblasste langsam, die Bilder zogen wie Atemzüge davon. Khepri klammerte sich an seine Hand. „Ich möchte… ich möchte bei dir bleiben.“ Er sah sie mit diesem Blick an - diesem Blick, der schon damals sagte: Ich würde die Welt für dich drehen, wenn ich könnte. „Ich weiß,“ flüsterte er. „Aber dein Leben ist dort, Khepri. Mit unserem Sohn. Mit seinen Kindern. Mit ihrer Zukunft.“ Ihre Knie gaben nach. Er fing sie auf - wie früher.
Die Welt begann zu zerbrechen wie dünner Sand unter den Füßen. „Morfin-“ „Sei nicht traurig,“ sagte er. „Ich bin stolz auf dich. Auf sie. Auf alles, was geblieben ist.“
Er löste sich. Ein Schritt zurück. Dann zwei. Sein Lächeln wurde weicher, schwächer, wie ein Stern, der sich langsam entfernt. „Leb für uns, Khepri.“
Die Farbe des Traums verflüchtigte sich. Der Sand wurde zu Nebel. Die Wärme zu Schatten.
Und im letzten Moment hörte sie noch: „Ich liebe dich.“ Sie wachte mit nassen Wangen auf. Der Morgen war still. Sie legte eine Hand auf ihr Herz, wo sie sein Bild trug. Sie schloss die Augen. Sie wünschte, sie könnte mit ihm in diesem Traum weiterleben. Aber sie stand auf. Denn jetzt wusste sie: Sie lebte für sie beide.
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