Kapitel 10 - Das Schuljahr geht zu Ende

Veröffentlicht am 27. November 2025 um 13:23

Aus den Aufzeichnungen von Khepri Khairy - 23. Juni 1993

Ich glaube, das ist das erste Mal seit Monaten, dass ich wirklich atmen kann.
Die Kammer ist geschlossen. Das Flüstern verstummt. Die Mauern zittern nicht mehr unter Dingen, die ich nicht verstehen konnte. Und trotzdem fühlt es sich nicht so an, als wäre alles vorbei. Mehr so, als hätte jemand eine schwere Decke von mir genommen, aber die Kälte darunter ist noch da. Vielleicht braucht es einfach Zeit, bis sie verschwindet.
Shukran ist nicht hier. Ich habe es gespürt, als das Schloss sich beruhigte - dass der eine Faden, der mich seit Jahren festhält, einfach fehlt. Der Brief von ihm hat mich erleichtert, natürlich, aber der Gedanke, dass er fürs Erste nicht zurückkommt, tut trotzdem weh. Ich schaue ständig auf die Türen, als könnte er jeden Moment durchlaufen. Vielleicht bin ich nur schlechter im Alleinsein, als ich zugeben möchte.
Und dann war da Marcus. Ich weiß nicht, wie ich aufschreiben soll, was gestern zwischen uns passiert ist, ohne dass es falsch klingt. Es war nichts Großes. Keine dramatischen Geständnisse, kein Händchenhalten, keine dieser kitschigen Sachen, über die Liliana immer lacht. Nur Worte. Echte, leise, ehrliche Worte. Vielleicht sogar mehr als das.
Er hat mich angesehen, als hätte er verstanden, dass ich gerade auseinanderfalle - und gleichzeitig zusammenhalten möchte. Dass ich stark bin, aber müde. Dass alles, was passiert ist, mich nicht unberührt gelassen hat. Und zum ersten Mal hatte ich nicht das Gefühl, mich verteidigen zu müssen.
Ich frage mich, ob er immer schon so war und ich es nur nicht sehen wollte. Oder ob ich mich einfach geändert habe. Ich weiß nicht, wohin das führt. Ich weiß nur, dass ich mich an das Gefühl erinnere, als wäre ich für einen Moment nicht völlig allein mit meinen Gedanken gewesen. Dass es warm war. Dass es ruhig war. Dass ich keine Angst hatte.
Vielleicht ist das alles, was ich im Moment brauche: einen Ort, an dem es still genug ist, dass ich hören kann, wer ich wirklich bin - ohne Flüstern, ohne Stimmen, ohne Erwartungen. Nur ich. Und vielleicht jemand, der den Halbschatten mit mir teilt.

 

Die Luft war warm, das Sonnenlicht weich, selbst der See wirkte ruhiger als sonst, als hätte er beschlossen, den Schülern eine Verschnaufpause zu gönnen. Die Flure waren erfüllt von dem gleichmäßigen Rascheln von Pergament, dem Klirren von Tintenfässern und dem gedämpften Stöhnen derjenigen, die sämtliche Revisionsstunden verschlafen hatten. Khepri ging mit Liliana die große Treppe hinunter, ihr Stapel an Notizen so dick wie ein kleiner Roman. „Wenn Babbling uns morgen alte ägyptische Runen abfragt“, murmelte Liliana, „kann ich dann bitte auf dein Genmaterial zurückgreifen? Das muss doch irgendwo Vorteile haben.“ Khepri lachte zum ersten Mal seit Tagen richtig. „Ich glaube nicht, dass Genetik dir hilft, wenn du die Basiszeichen noch immer mit den nordischen verwechselst.“ „Ich verwechsele gar nichts. Ich… sortiere kreativ.“ Liliana grinste breit - es war das erste Mal, dass sie wieder wie ihr gewohntes, strahlendes Ich wirkte. Die letzten Wochen hatten sie alle mürbe gemacht. Khepri drückte die Unterlagen fester an sich. „Weißt du… ich hätte nicht gedacht, dass sich Hogwarts jemals wieder so anfühlen würde.“ „Wie?“ „Lebendig.“
Liliana nickte. „Ich glaube, das ist der Moment, in dem wir uns eingestehen müssen: Wir haben’s echt geschafft, Khepri. Ohne selber zu versteinern.“ Sie gingen durch die Eingangshalle zur Bibliothek. Einige Erstklässler huschten mit Armen voller Bücher vorbei, eine Gruppe Hufflepuffs übte laut die Theorie zu Verwandlungen. Alles war fast… normal.
Percy erwartete sie bereits an einem Tisch mit drei geordneten Pergamentstapeln, die aussahen, als seien sie nach Farbe, Wichtigkeit und emotionaler Bindung sortiert. „Ihr seid spät“, sagte er, ohne aufzusehen, aber seine Stimme klang erleichtert. „Wir sind exakt rechtzeitig“, antwortete Khepri und setzte sich ihm gegenüber. „Du bist nur wieder in Ministeriums-Vorbereitungsmodus.“ Percy schnaubte. „Ich nenne es einfach gute Organisation.“ Penelope erschien mit einem Stapel Zaubertrankkarten, nickte Khepri sanft zu - mit einem Lächeln, das sagte: Ich bin dankbar, dass du hier bist. Khepri erwiderte es. Sie fühlte genauso.
Ein paar Tische weiter saß Marcus mit Adrian und Miles. Er hob kurz den Blick, als hätte er gespürt, dass sie eingetreten war. Ihr Herz stolperte, ein einziger Moment nur, und er senkte seinen Blick wieder, ohne die Stirn zu runzeln, ohne zu lächeln, ohne Stichelei. Ein neutrales, stilles Nicken, das wärmer war als jedes Wort.
Khepri zwang sich zurück zu ihren Pergamenten. Liliana stupste sie mit dem Ellenbogen an. „Du wirst glühen, wenn du noch einmal hinguckst.“ „Ich glühe nicht.“ „Du glühst. Voll.“ Liliana warf ihr ein wissendes Lächeln zu, dann ließ sie das Thema fallen, was war ihre Art zu sagen war: Ich bin da, wenn du reden willst.
Der Nachmittag wurde ruhiger. Seite um Seite füllte sich mit Notizen. Percy erklärte geduldig, Penelope ergänzte, Liliana kommentierte halblaut die Stirnfalte ihres Bruders Miles auf der anderen Seite des Raumes, und Khepri merkte, wie der Druck des Jahres langsam, ganz langsam von ihr abfiel.
Das Amulett lag noch immer sicher in ihrer Schublade im Schlafsaal. Sie spürte seine Abwesenheit wie man einen verlorenen Zahn spürt - ständig, aber dumpf. Es war das erste Mal seit fast einem Jahr, dass sie ohne es lernte. Vielleicht war es okay. Vielleicht brauchte sie für einen Moment nur dieses: Sonne. Stille. Ein Stapel Bücher, der sie nicht töten würde. Und Menschen, die sie liebte.
„Khepri?“ Percy sah sie prüfend an. „Alles in Ordnung?“ Sie nickte, und diesmal meinte sie es. „Ja. Ich glaube… endlich ja.“

 

Der Abend senkte sich golden über Hogwarts. Die Prüfungen waren vorbei, die Luft vibrierte vor einer seltsamen Mischung aus Erleichterung, Müdigkeit und dieser leisen Vorfreude, die immer den Sommer einläutet. Khepri hatte sich in die kleine Nische ganz hinten in der Bibliothek zurückgezogen, dort, wo die Regale schief standen und die Bücher so alt waren, dass selbst Madam Pince nur mit Handschuhen an sie ging. Es war der einzige Ort im Schloss, der sich in den letzten Wochen nicht verändert hatte. Sie strich mit dem Finger über den Einband eines Buches, das sie unzählige Male angesehen, aber nie geöffnet hatte: „Britannische Schutzmagie zwischen den Jahrhunderten“. Runen und Amulette. Übertragungen. Blutlinienmagie.
Genau die Themen, die sie seit Monaten begleiteten, aber heute fühlten sie sich anders an. Weniger bedrohlich. Eher wie eine Tür, die sie nun bewusst öffnen konnte.
Sie atmete tief ein und schlug das Buch auf. „Du siehst aus, als würdest du versuchen, das Universum zu sortieren“, sagte eine Stimme hinter ihr. Liliana natürlich. Khepri schloss das Buch und sah hoch. „Ich versuche nur, ein paar Dinge zu finden, die ich nicht verstanden habe.“ „Nur ein paar?“ Liliana setzte sich neben sie, zog die Knie an und lehnte sich gegen das Regal. „Das ist das erste Jahr, in dem ich wirklich Angst hatte, dass wir nicht lebend rauskommen. Du darfst verwirrt sein.“
„Ich weiß.“ Khepri fummelte an einer losen Seitenkante. „Aber es ist… mehr als das. Ich hab das Gefühl, ich verpasse etwas. Wie ein Detail, das ich sehen soll, aber es entzieht sich mir.“ Liliana wirkte kurz nachdenklich. Dann lächelte sie schief. „Das klingt nach Familie.“ „Nach meiner?“ „Ja.“ Sie zwinkerte. „Khairy-Intuition oder so.“ Khepris Brust wurde warm. Liliana hatte Recht, aber es war nicht nur das. Es war dieses Ziehen tief im Bauch, wann immer sie das Amulett nicht trug. Ein Gefühl, das sie nicht eindeutig einordnen konnte. Nicht Zorn. Nicht Angst. Eher… Erwartung? Als hätte es selbst etwas zu sagen. „Weißt du“, begann Liliana leise, „ich hab darüber nachgedacht, was deine Téta im Winter gesagt hat. Über… den Urgroßvater, den niemand kennt.“ Khepri schluckte. „Du hast das mitbekommen?“ „Khepri, du warst so blass wie ein Geist und hast danach ausgesehen, als würdest du die Wand anbrüllen wollen. Ich wäre eine schlechte beste Freundin, wenn ich das nicht gemerkt hätte.“
Khepri klappte das Buch ganz zu. „Ich frage sie im Sommer nochmal. Sie hat etwas angedeutet, irgendwas über Geschichten, die noch erzählt werden müssen.“ Sie sah auf ihre Hände. „Ich glaube, sie will es diesmal wirklich sagen.“ Liliana lächelte sanft. „Und du willst es wirklich hören.“ „Ich habe Angst davor.“ „Ich weiß.“ Sie legte eine Hand auf Khepris Arm. „Aber du bist nicht allein, Khepri. Egal, was kommt, du hast mich, Percy, Penelope, und deine ganze Chaotenfamilie.“ Khepri lachte leise. „Und Marcus?“ Liliana zog die Augenbrauen hoch. „Vor dem musst du keine Angst haben. Höchstens vor seinen Gefühlen.“ Khepris lachte. „Liliana!“ „Was? Jemand muss es ja aussprechen.“
Sie schwiegen einen Moment. Die Bibliothek roch nach Staub und Sonne. Ein sanftes Zischen streifte die Ränder von Khepris Bewusstsein, aber diesmal war es kein Angriff. Kein Befehl. Nur… ein Gruß. Ein Echo. Sie legte eine Hand an ihr Schlüsselbein, dorthin, wo das Amulett normalerweise lag. „Im Sommer“, flüsterte sie. „Was im Sommer?“, fragte Liliana. „Ich glaube… im Sommer wird mir jemand antworten.“ Lilianas Blick wurde weich. „Dann hören wir zu.“

 

Der letzte Schultag fühlte sich anders an als alle zuvor, nicht nur, weil die Prüfungen überstanden waren. Nicht nur, weil das Schloss endlich wieder lachte. Es war, als hätte Hogwarts selbst einen langen, zitternden Atemzug getan und nun wieder warm ausgeatmet.
Khepri stand mit Liliana und Penelope in der großen Halle, die von Trubel erfüllt war: Gepäck, Haustiere, stapelweise Abschiedsbriefe. Schüler liefen durcheinander, lachten, schrien, umarmten sich. Über allem lag der Duft nach frischem Brot und Honigkuchen, den die Hauselfen immer am letzten Tag servierten. Penelope band gerade ihre Haare zu einem festen Knoten. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal so froh sein würde, Hogwarts zu verlassen“, sagte sie lachend. Percy stand neben ihr und wirkte, als könnte er sie keine Sekunde aus den Augen lassen. „Du wirst uns noch fehlen, Clearwater,“ neckte Liliana. „Wir können uns ja besuchen!“, schlug Penelope vor.
„Gerne!“ Percy schenkte den beiden ein echtes Lachen. Ein warmes, das Khepri an seine kindlicheren Jahre erinnerte. Khepri selbst fühlte sich ruhig. Das war neu. Diese Ruhe saß tief, schwer, aber nicht unangenehm - wie Erde, die sich endlich setzt. Als sie zum Tor ging, suchte ihr Blick automatisch Marcus. Er stand mit Adrian und Miles beim Slytherin-Tisch, eine Hand im Nacken, die andere auf seinem Koffer. Seine Augen trafen ihre nur für den Bruchteil eines Moments - kein Starren, kein Flirten, kein Grinsen. Nur ein kurzes, warmes „Ich sehe dich.“. Und sie lächelte ihm zu, klein, aber ehrlich.
Die Schüler ergossen sich wie ein bunter Strom über das Gelände. Hogsmeade glänzte in der frühen Sommersonne, der schwarze See war ruhig, und die Kutsche rumpelte angenehm über den Boden. „Ich werde Khairy Manor vermissen“, seufzte Liliana. „Du fährst doch mit!“, lachte Khepri. „Ja, aber ich wollte dramatisch sein.“
Khepri stieß sie an. „Das kannst du gut.“ Liliana grinste. „Stimmt.“
Der Hogwarts-Express wartete dampfend und warm. Khepri liebte diesen ersten Moment, wenn sie den Wagen betrat - der Geruch nach Metall, Tinte und den alten Polstersitzen. Sie fanden ein leeres Abteil. Liliana und Miles setzten sich ans Fenster, während Khepri die Bücher in ihrer Tasche sortierte, als müsste sie sie alle vor dem Aufbruch retten. Percy steckte den Kopf zur Tür herein. „Ich bin bei den Vertrauensschülern. Ich komme später vorbei, ja?“ „Natürlich“, sagte Khepri. Dann blieb er stehen, nur einen Moment. „Khepri…“ „Hm?“ „Ich bin froh, dass du heil aus diesem Jahr rausgekommen bist.“ Sie lächelte. „Ich auch.“
Während der Express durch die grüne Landschaft ratterte, flüsterte ein leises Summen gegen das Fenster. Khepri legte die Stirn dagegen, beobachtete die vorbeifliegenden Felder, die kleinen Häuser, die Wälder, die sich wie weiche Wellen ausbreiteten. Liliana döste. Die Normalität tat gut, so unfassbar gut. Khepri ließ die Gedanken treiben: Shukrans leiser Brief, Marcus’ unerwartete Wärme, das Schweigen des Amuletts, ihre Téta, die im Sommer bereit war zu sprechen, Der Traum von ihrem Urgroßvater, der sich immer deutlicher anfühlte, das Wissen, dass das nächste Kapitel ihes Lebens nicht in Hogwarts spielen würde.
Sie öffnete ihr Tagebuch auf den leeren Seiten und schrieb eine einzige Zeile: „Im Sommer beginnt die Wahrheit.“
Der Zug quietschte auf Gleis neundreiviertel ein. Die Türen sprangen auf; eine Welle warmer Luft, Stimmen, Elternrufe. Und dann: Khepris Familie. Khepri rannte die letzten Stufen der Bahnsteighalle hinunter, als sie ihre Mutter sah. Shijia fing sie mit einem Arm und einer langen, festen Umarmung auf, die mehr sagte als Worte. „Wo ist Shukran?“, fragte Khepri sofort. „Er ist zuhause, Schatz. Er wartet auf dich.“
Liliana wurde von Caleb und den Zwillingen halb umgeschubst vor Begeisterung. Sekani schloss Penelope kurz in die Arme - die beiden hatten während der letzten Tage im Krankenflügel offenbar eine neue Art von Freundschaft angefangen. Und Khepri verabschiedete sich von ihren Freunden, bevor sie sich alle auf den Weg nach Hause machten.

 

Als sie abends am Fenster ihres Zimmers in Khairy Manor stand, sah sie den Garten in warmes Licht getaucht. Hinter den Bäumen wurde der Himmel langsam tintenblau. Und irgendwo, ganz tief in ihrer Brust, fühlte sie es: Etwas wartete. Nicht bedrohlich. Nicht fordernd. Einfach… wartend.
Sie legte eine Hand dorthin, wo das Amulett normalerweise lag. „Bald ist es soweit.“, flüsterte sie.

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