Kapitel 8.2 - Die Dinge nehmen ihren Lauf

Veröffentlicht am 27. November 2025 um 12:47

Es regnete seit Stunden. Kein sanfter Frühlingsregen, sondern kalte, schwere Tropfen, die wie spitze Nadeln gegen die Fenster hämmerten. Khepri starrte seit zwanzig Minuten auf dieselbe Seite in ihrem Zaubertränkebuch, ohne ein Wort zu lesen. Ihre Gedanken waren ein einziges Rauschen.
Drei Wochen.
Drei endlose Wochen.
Kein Brief. Kein Zeichen. Kein gar nichts.
Aaron saß diagonal hinter ihr, stützte den Kopf auf die Arme und murmelte seine Hausaufgaben vor sich hin, Maralen neben ihm, die seine Aussagen auf Richtigkeit prüfte. Sekani las - oder tat so. Liliana kaute seit fünf Minuten auf dem gleichen Lockenende herum.
Alle gaben sich Mühe, nicht zu zeigen, wie sehr sie sie beobachteten. Khepri schloss das Buch. „Ich kann das heute nicht.“ Aaron hob den Kopf. „Ist okay.“
Niemand sagte: Wir wissen warum. Niemand musste. In dem Moment klatschte etwas gegen das Fenster. Alle fünf fuhren zusammen. Noch einmal. Ein dumpfer, schwerer Aufprall. Liliana sprang auf. „Das ist eine Eule.“ Sekani rannte zum Fenster, zog es auf - kalter Wind fegte in den Raum, Regen peitschte herein - und da war sie: Eine durchnässte, grau-weiße Eule, die sich kaum noch auf den Füßen hielt. Khepris Herz setzte aus.
„Shukran?“ flüsterte sie, schon bevor sie wusste, dass das dumm war. Sekani nahm den Vogel vorsichtig entgegen und setzte ihn auf den Tisch. Liliana wischte ihm sanft den Hals trocken. Maralen reichte Khepri den Brief. Der Umschlag war dünn. Viel zu dünn.
Er war nicht von Shukran. Die Handschrift war erwachsen. Strenger, schwungvoller und vertraut. „Mrs. Bennett“, flüsterte Khepri. Stille.
Keiner wagte, sie zu berühren. Keiner wagte, sie aufzuhalten. Khepri riss den Umschlag auf. Das Papier war nur halbseitig beschrieben.

Liebe Khepri,
es tut mir leid, dass ich dir nicht früher geschrieben habe. Die Wahrheit ist: Wir wussten selbst nicht, was wir dir sagen sollen. Maya… ist stabiler als vor drei Wochen, aber noch nicht gesund.
Sie hat Fieber, das kommt und geht, und Anfälle, die die Ärzte nicht einordnen können. Sie sprechen von einer Infektion, aber keine Behandlung wirkt so, wie sie sollte. Shukran ist bei ihr. Er ist kaum von ihrer Seite gewichen. Wir versuchen, gut auf ihn zu achten, aber er isst wenig und schläft fast gar nicht. Ich weiß, dass du dir Sorgen machst. Bitte versuche, etwas für dich selbst zu sorgen.
Wir schreiben, sobald sich etwas ändert.
In Hoffnung,
Elena Bennett

Am Ende des Briefes war ein einzelner Satz schief nachgetragen, nicht von Mrs. Bennett.
Shukrans Handschrift, in zittrigen Buchstaben: „Es wird alles gut, Khepri. Ich verspreche es. – S.“
Khepris Sicht verschwamm. Liliana schloss die Hand über ihren Rücken. Aaron starrte sie an wie ein Reh im Scheinwerferlicht, während Maralen unsicher auf ihrer Lippe kaute. Sekani kniff die Lippen zusammen und sah zur Seite, weil er wusste, dass er sonst mitweinen würde.
„Er… fehlt mir,“ hauchte Khepri. Liliana drückte ihren Arm. „Ich weiß, Süße. ich weiß.“ „Er isst nichts.“ Die Worte schmerzten körperlich. „Er schläft nicht. Warum schickt er mich nicht- warum lässt er mich ihm nicht helfen-“ „Weil er will, dass du hier weitermachst wie immer, Khepri,“ sagte Sekani leise. „Weil er glaubt, dass du ohne ihn stärker bist, als du wirklich bist.“
Ein Schluchzen löste sich, still, kaum hörbar. Der Regen prasselte erbarmungslos weiter.

Es hörte erst in den frühen Abendstunden auf, und Hogwarts roch danach nach nassem Stein und kalter Luft. Khepri stand am Fenster der Bibliothek, das Pergament mit Mrs. Bennetts Nachricht an die Brust gedrückt. Ihr Herz schlug nicht ordentlich. In ungleichmäßigen, erschreckenden Schlägen, als wäre es nicht sicher, ob es weitermachen sollte.
Neben ihr blätterte Percy in einem dicken Folianten, ohne eine Zeile zu lesen. „Khepri?“, fragte er vorsichtig. „Du hast heute den ganzen Tag kaum gesprochen.“ Sie lachte heiser. „Ich glaube, ich verlerne es.“ Percy klappte das Buch zu. „So funktioniert das nicht,“ sagte er ruhig. „Nicht mit mir.“ Sie hätte antworten können, aber sie fühlte nur Leere. Dann spürte sie es: Eine Wärme, und sie wusste, wo sie herkam: Unter ihrem Kissen, im Schlafsaal.
Wie eine leise Erinnerung, die ihr jetzt über den Rücken kroch. „Es… es ruft mich“, flüsterte sie. „Was?“ „Das Amulett.“ Percy stand sofort. „Dann sollten wir-“ „Ja.“ Sie atmete flach. „Ich muss es wieder anlegen.“


Der Schlafsaal war leer, als sie ankam. Percy wartete vor der Tür des Gemeinschaftsraumes. Es war zwar eingeschränkt erlaubt, dass man sich in den Gemeinschaftsräumen anderer Häuser aufhielt, wenn man Freunde oder Familienmitglieder besuchte, aber er wollte ihr etwas Raum geben.
Ein leichter Windzug strich durch die unterirdischen Fenster, und die Unterwasserlichter warfen blasse, bewegte Reflexe an die Wände. Sie setzte sich auf ihr Bett und zog das Kissen zur Seite. Das Amulett lag darunter, reglos, stumm und harmlos. Bis sie es berührte.
Ein elektrisches Kribbeln schoss ihren Arm hinauf. Nicht schmerzhaft, aber lebendig. Als würde eine fremde Magie prüfen, ob sie es wirklich war. Liliana, die ihr gefolgt war, hielt unwillkürlich den Atem an. „Willst du wirklich-“ Khepri legte es um.
Vom ersten Atemzug an fühlte es sich nicht mehr an wie früher.
Früher war es ein Gewicht gewesen. Jetzt war es eine Verbindung. Es legte sich nicht einfach auf ihre Haut - es schloss sich an sie an.
Ein Flüstern lief ihr über den Nacken. Warm. Traurig. Sorgend.
Mädchen.
Kind.

Ihre Augen weiteten sich. „Urgroßvater…?“ Doch die Antwort kam aus der Wand hinter ihr.
Ein zweites Flüstern. Tief. Eiskalt. …hungerrrr…
Khepris Atem stockte. „Hast du das gehört?“, hauchte sie. „Nein.“, sagte Liliana leise. Khepris Stimme brach. „Nur ich. Nur ich…“ Das Zischen. Es war nah. Zu nah.

Percy fand sie Minuten später auf dem Gang vor dem Slytherin-Gemeinschaftsraum.
Sie stand mit dem Rücken an der Wand, völlig blass, eine Hand auf dem Amulett, das jetzt heiß geworden war. „Khepri?“ Sie blinzelte, verstand erst nach einer Sekunde, dass er real war. „Ich… ich glaube, ich höre es deutlicher.“ Ihre Stimme klang nicht nach ihr selbst.
„Es ist nicht nur Zischen. Es… sagt Dinge. Worte. Gedanken. Ich kann sie nicht ganz- Es sagte Hunger. Es macht mir Angst, Percy“
Percys Hände stützten ihre Schultern. Fest, aber nicht grob. „Du musst atmen. Ganz ruhig. Einatmen. Ausatmen.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht- ich kann nicht- Shukran ist weg, Maya ist krank, und das- was auch immer es ist, es ist hier irgendwo und es wird-“ „Khepri!“ Percy schüttelte sie leicht. „Hör mir zu. Du bist nicht allein. Und du wirst nicht verrückt. Wir kriegen das hin.“
Ihre Lippen bebten. Eine einzelne Träne rollte über ihre Wange.
Und genau in diesem Moment tauchte Marcus am Ende des Korridors auf. Er sah nicht aus, als hätte jemand nach ihm gerufen. Er sah aus, als wäre er dort gewesen, um aufzupassen. Seine Augen blitzten auf, als er Khepri sah - weiß, zitternd, zusammengebrochen. Er war sofort da. „Was ist passiert?“ Percy wich nicht zurück.
„Sie hört wieder eine Stimme. Stärker als vorher.“ Marcus’ Augenbrauen zogen sich zusammen. „Warst du allein?“, fragte er Khepri, zu leise, um als Wut durchzugehen, zu scharf, um neutral zu sein. „Ich- ich weiß nicht- ich- “ Percy öffnete den Mund, doch Marcus hob eine Hand. „Nicht du.“ Sein Blick blieb auf Khepri. „Sie.“
Khepri schloss die Augen. „Marcus… ich- ich höre Worte. Richtige Worte. Es ist nicht mehr nur Zischen, es- “
Das Amulett pulsierte. Liliana keuchte. „Es leuchtet.“ Marcus trat instinktiv zwischen sie und das flackernde Licht.
„Rück mal“, fauchte er Percy an. „Was soll das?“ „Ich will nicht, dass sie umfällt, Weasley“, knurrte Marcus. „Passiert dir das öfter, oder ist das neu?“ „Marcus.“ Khepri rang nach Luft. „Ich… ich kann’s nicht stoppen.“ Er senkte die Stimme. Nur für sie. „Dann hör auf zu kämpfen, Khepri. Lass es reden. Du musst verstehen, was es will.“ Ihr Blick schnellte zu ihm - überrascht, erschrocken, aber… er hatte Recht, auch wenn er gar keine Ahnung davon haben dürfte, wovon er redete. Sie hatte ihm nie von den Stimmen erzählt.
Aber nur er konnte so etwas sagen, ohne dass sie zerbrach. Das Amulett glühte etwas heller. Einen Herzschlag lang hörte sie die Stimmen überlagert: Das ferne, schmerzhafte Flüstern ihres Urgroßvaters. Und das dunkle, kalte Zischen der Stimme Hogwarts’. “Töten…“
Sie schnappte scharf nach Luft. Marcus fing sie auf, bevor ihre Knie nachgaben. Percy legte eine Hand gegen ihren Rücken, stabilisierend. Liliana hielt ihre Hand fest. Drei Hände. Drei Stimmen, die sie stützten. Und in der Mitte sie selbst - mit einem Erbe, das endlich erwachte.

 

Es war kurz nach zehn am Tag darauf, als die Nachricht durch den Korridor lief wie ein Funken über trockenes Laub. „Jemand hat eine Schlange gesehen! Eine riesige!“ Die Stimme eines Erstklässlers überschlug sich, während ihm zwei weitere Kinder hinterher stolperten. Khepri war gerade mit Liliana aus dem Unterricht gekommen, als die Worte sie trafen wie ein Peitschenschlag. Liliana blieb mitten im Schritt stehen. „Hast du das…?“ Khepris Herz stürzte in den Magen. „Wer hat was gesehen?“ Der Erstklässler - ein kleiner Ravenclaw mit verweinten Augen - starrte sie an, als wäre sie seine letzte Rettung. „Im fünften Stock! Eine Schlange! Ich schwöre, sie war… sie war riesig! Gelb und schwarz und- und sie hat mich beinahe angesehen!“ Er fing wieder an zu hyperventilieren. Liliana kniete sich sofort zu ihm. „Hey, hey, wir glauben dir. Atme einmal tief ein, ja?“
Khepri hörte gar nicht zu. In ihrem Kopf formten sich die Worte: Gelb und schwarz. Riesig. Schlange.
Ein kalter Schauder zog ihre Wirbelsäule hinunter.
Marcus tauchte aus einer Seitenwand auf - Khepri war mittlerweile sicher, dass er einfach überall aus Schatten wachsen konnte - und funkelte den Erstklässler an. „Was hast du gesehen? Sag’s noch mal.“ „Eine Schlange! Riesig! Und ich hab Geräusche gehört! So ein… so ein fieses Wispern!“ Khepris Atem stockte. Zischeln.  Flüstern. Wandern durch Wände.
Percy kam gerade um die Ecke, einen Stapel Pergamente in der Hand, bleich wie die Wand dahinter. „Bitte sagt mir, dass ich das falsch verstanden habe.“ „Hast du nicht“, murmelte Khepri. „Percy… was, wenn das Flüstern-“„-eine Schlange ist.“ Er beendete ihren Satz, als hätte er ihn selbst schon Stunden zuvor gedacht. Liliana sah zwischen ihnen hin und her. „Aber das würde heißen-” „Dass die Stimme tatsächlich sehr real ist.“ Khepris Stimme bebte. „Eine Schlange, die sich durch die Wände bewegt. Eine große.“ Aaron und Sekani hatten sich inzwischen dazugeschlichen, weil natürlich musste die gesamte Khairy-Familie immer dann anwesend sein, wenn etwas Dramatisches passierte. „Moment“, meinte Sekani langsam. „Wenn’s eine Schlange ist… dann ist das Zischen-“ „-keine dämonische Stimme.“
Aaron schluckte hart. „…sondern eine Sprache.“
Drei Paar Khairy-Augen ruhten aufeinander. Sie alle spürten es. Die Wahrheit war so nah, dass sie sie fast greifen konnten. Percy flüsterte: „Eine Sprache, die ihr… versteht.“
Khepri wurde schwindelig. „Parsel“, murmelte sie. Das Wort schmeckte nach Metall und Blut. „Es muss Parsel sein.“ Marcus starrte sie an, als hätte sie sich in ein Fabelwesen verwandelt.
„Du verfluchte kleine-“ Er stockte, blinzelte und beendete den Satz nicht. Stattdessen sagte er: „Dann hört ihr Dinge, die andere nicht hören. Heißt das auch, ihr könnt-“
Ein Schrei durchschnitt das Schloss. Ein einziger, schriller, panischer Schrei, der ihnen das Blut gefrieren ließ. „Das kam aus dem Gang zum Krankenflügel!“, rief Percy. „Los!“ Khepri rannte. Marcus rannte neben ihr. Percy dahinter. Liliana, Aaron, Sekani - das ganze Rudel.
Sie flogen über die Treppen. Fünf Stockwerke tiefer endete der Lauf abrupt. Am Boden lag ein Haufen zertrümmerten Holzes - eine umgestürzte Statue.
Und davor zwei Gestalten: Hermine Granger. Penelope Clearwater.
Reglos. Versteinert. Das Licht der Fackeln ließ ihre Haut wie kalten Marmor schimmern.
Percy gab ein Geräusch von sich, das Khepri noch nie von ihm gehört hatte. Kein Schock. Kein Schrecken. Reiner, blanker Schmerz.
„Penelope-“ Er kniete neben ihr nieder, die Hände zitterten, als er sie berühren wollte, aber sich nicht traute. „Nicht du auch… nicht du…“
Liliana schlug sich die Hand vor den Mund. Aaron flüsterte ein entsetztes „Oh mein Gott-“
Khepri stand da wie versteinert. Das Amulett an ihrem Hals war eiskalt. Eisiger als je zuvor.
Es hatte reagiert. Es hatte gewarnt. Und sie hatte es nicht verstanden.
Marcus trat einen Schritt nach vorn. Für einmal war nicht der Hauch von Spott in seinen Augen. Nur Betroffenheit. Und etwas Dunkles. „Wir waren zu spät“, murmelte er.
Khepris Knie gaben leicht nach.„Nein“, flüsterte sie. „Wir waren so nah… so verdammt nah…“
Percy sank über Penelopes Hand hinweg. Und das Amulett vibrierte ein letztes Mal, als würde es eine Wahrheit flüstern, die niemand hören wollte: Es ist nicht vorbei.

 

Hogwarts war still. Zu still.
Normalerweise hallten um diese Zeit Schritte, Stimmen, das Klirren von Frühstücksgeschirr durch die Gänge - aber heute lag etwas Schweres in der Luft. Etwas, das nicht einmal die Fackeln zu berühren wagten. Khepri schob die Tür zur großen Halle auf.
Die Gespräche darin waren gedämpft, flüsternd, wie unter einer unsichtbaren Glocke. Gryffindors saßen ungewohnt eng beieinander, Hufflepuffs mit großen Augen, und selbst die Ravenclaws blickten nervös über ihre Bücher hinweg. Die Slytherins waren ungewöhnlich ruhig; Marcus saß mit verschränkten Armen und einem Blick, der niemanden an sich heranließ. Khepri fühlte Lilianas Hand an ihrer Schulter, leicht, stützend. „Atme“, murmelte sie ihr zu. „Du kannst jetzt nichts für Percy tun. Aber du bist da. Das zählt.“
Khepri nickte, auch wenn ihr Bauch schmerzte. Ihr Blick wanderte zum Gryffindor-Tisch.
Percy saß zwischen Fred und George — die Zwillinge stützten ihn geradezu. Seine Haltung war durchgebrochen. Seine Brille verrutscht. Sein Gesicht grau vor Sorge, die Hände zu Fäusten verkrampft, als würde er sonst zerfallen. Khepris Herz zog sich zusammen.
Sie wollte zu ihm gehen. Wollte etwas sagen. Wollte irgendetwas tun. Doch als Percy sie bemerkte, hob er nur ganz leicht den Kopf. Kein Lächeln. Kein Gruß. Nur ein winziges Nicken. Ich weiß, dass du da bist. Es tat mehr weh als alles andere.
Liliana räusperte sich leise. „Komm. Wir setzen uns.“
Doch kaum hatten sie Platz genommen, öffnete sich die Tür der großen Halle mit einem tiefen, hallenden Schlag. Ein Schatten glitt über die Tische, die Gespräche versiegten.
Professor McGonagall trat ein. Ihr übliches strenges Gesicht war heute härter, erschöpfter. Ihre Lippen waren ein dünner Strich, und selbst ihr Umhang wirkte schwerer als sonst. Sie stellte sich vor den Lehrertisch und hob die Stimme.
„Schülerinnen und Schüler von Hogwarts…
Am vergangenen Vormittag wurden Miss Granger und Miss Clearwater angegriffen.“ Ein Raunen lief durch die Halle, obwohl es jeder bereits wusste. „Sie leben“, fuhr McGonagall fort, „aber sie wurden versteinert - so wie die vorherigen Opfer.“ Percy versteifte sich sichtbar.
„Wir arbeiten daran, die Ursache einzugrenzen. Bis dahin gilt:
– Niemand bewegt sich allein durch das Schloss.
– Flure des fünften Stockwerks sind bis auf Weiteres gesperrt.
– Und ab heute Abend gibt es eine Ausgangssperre ab Einbruch der Dunkelheit.“
Sie atmete tief ein. Nach einem Moment fügte sie leiser hinzu: „Wir wissen, dass ihr Angst habt. Aber Hogwarts hat schon viele dunkle Zeiten überstanden.“
Khepri spürte, wie ihre Finger zu einer Faust wurden. Dunkle Zeiten. Flüstern. Schlange.
Sekani und Aaron sahen sie gleichzeitig an — dieselbe Erkenntnis im Blick. Liliana flüsterte: „Ihr wisst etwas, oder?“ Khepris Stimme war kaum hörbar. „Nicht genug. Und das ist das Problem.“
McGonagall entließ die Schülerinnen und Schüler. Die Halle löste sich nur zögerlich auf, wie Wasser, das zu gefroren ist, um zu fließen. Als Khepri aufstand, kreuzte sie für einen Atemzug Marcus’ Blick. Er sagte nichts, aber er sah sie an wie jemand, der etwas wissen wollte und gleichzeitig nicht sicher war, ob er es wissen wollte. Ungewöhnlich weich. Ungewöhnlich ehrlich. Khepri wandte sich ab, bevor ihre Knie wieder hätten nachgeben können.

 

Keine Madam Pince, keine Schüler, nur ein Hauch Staub im Licht der hohen Fenster. Es war Mittag, aber Hogwarts fühlte sich an, als läge ein Schatten über jeder Türschwelle. Khepri stand am großen Tisch im hinteren Bereich der Bibliothek, vor sich eine aufgeschlagene Karte des Schlosses, die sie eigentlich nie hierher hätte bringen dürfen. Aaron tippte nervös mit den Fingern auf das Holz. Sekani lehnte mit verschränkten Armen an einem Regal, dunkle Schatten unter den Augen. Alle drei sahen aus, als hätten sie tagelang nicht geschlafen. „Fangen wir noch mal an,“ sagte Khepri schließlich. Ihre Stimme war angespannt, aber fest. „Alles, was wir wissen. Punkt für Punkt.“ Aaron nickte sofort und schob seine Brille hoch. „Okay. Erstens: Wir hören eine Stimme, die niemand sonst hört.“ „Zweitens,“ ergänzte Sekani, „sie klingt wie… wie das, was wir sprechen, wenn wir flüstern. Wie dieses… Dings, das aus uns rauskommt, wenn wir uns nicht anstrengen.“
Parsel, Schlangensprache. Sie sagten es nicht, aber es hing zwischen ihnen. „Drittens,“ sagte Khepri, „die Stimme spricht von Töten. Fast immer. Und sie bewegt sich. Durch die Wände. Durch Rohre.“ Sie berührte mit einem Finger ein in Tinte markiertes Rohrsystem, das unter der Karte eingezeichnet war. „Das hier.“ Aaron runzelte die Stirn. „Schlangen können durch Rohre kriechen.“ „Riesenschlangen auch,“ murmelte Sekani. Keiner von ihnen lachte. Khepri fuhr fort: „Viertens: Die Angriffe. Immer dort, wo die Stimme vorher zu hören war. Immer Versteinerung. Kein direkter Tod.“ Ihre Stimme brach fast, als sie hinzufügte: „Fünftens: Gestern Hermine und Penelope.“ Aaron senkte den Kopf.
Sekani strich sich über die Stirn. „Khepri, das… das reicht, oder? Es ist eine Schlange. Eine riesige. Die Stimme, das Zischen… alles deutet darauf hin.“ „Ja,“ sagte Khepri. „Aber nicht irgendeine Schlange.“ Es war alles da. Jeder Teil. Jede Spur. Jedes Zischen. Und plötzlich spürte sie, wie die Furcht Platz machte für etwas anderes: Wissen. Schmerzhaft klar und eiskalt. „Es ist ein Basilisk,“ sagte sie, kaum hörbar. „Slytherins Monster. Das Monster aus der Kammer.“ Aaron fuhr sich über den Mund, die Hände zitterten. „Aber… der würde jeden sofort töten! Nicht versteinern!“ „Es sei denn,“ sagte Sekani langsam, „niemand hat ihm direkt in die Augen gesehen.“ Er zählte leise ab:
„Spiegelung im Wasser. Durch Nick hindurch. Durch eine Kamera… durch einen…“ Er stockte. „…Spiegel.“
Alle drei schwiegen. Dann sagte Khepri: „Wir wissen genug. Wir haben Angst genug gehabt. Es ist Zeit, mit jemandem zu reden, der helfen kann.“ Aaron sah sie an, weit geöffnete Augen. „Mit wem?“ „Sprout,“ sagte Sekani sofort, denn er hatte großes Vertrauen in seine Hauslehrerin. „Und Dumbledore, wenn es sein muss.“ Aber Khepri sah unruhig zur Tür.
„Wir müssen vorsichtig sein. Wenn es stimmt… dann kann jemand Parsel verstehen. Und mit dem Basilisk reden. Irgendwer hat die Kammer geöffnet.“ Sie schluckte. „Und wir dachten, wir drei wären doch die einzigen in der Schule, die es könnten.“ Ein Moment reiner Stille fiel über die Gruppe. Dann trat Aaron vor und legte seine Hände flach auf den Tisch. „Khepri hat Recht. Wir sagen etwas. Heute. Jetzt.“ Sekani nickte. „Sonst gibt es vielleicht ein nächstes Opfer.“ Und als hätten die Mauern gewartet brach in diesem Moment ein aufgebrachter Schrei durch die Bibliothekstür. Die drei fuhren herum. Miles Bletchley stand keuchend im Türrahmen. „Ihr habt’s noch nicht gehört?!“ rief er, die Stimme überschlagend.
„Die Kammer - die Kammer ist wieder aufgegangen! Jemand ist verschwunden!“ Aaron stieß einen Laut aus, der zwischen Schock und Verzweiflung lag. Sekani packte die Tischkante.
Khepris Herz sank. Es war zu spät. Schon wieder zu spät.
„Dumbledore wurde gerufen,“ keuchte Miles weiter. „Snape ist irgendwo mit McGonagall verschwunden - das ganze Schloss ist in Aufruhr.“ Khepri wollte etwas sagen, doch ihre Stimme war nicht da. Sie wusste es instinktiv: Das hier war der Moment, an dem die Geschichte sich wiederholte. Nur diesmal standen sie nicht am Rand. Sie standen mitten in der Wahrheit. Aaron schüttelte heftig den Kopf. „Wir müssen sofort zu Professor Sprout. Oder McGonagall. Oder-“
Aber bevor er den Satz beenden konnte, bemerkte Khepri etwas. Zwei kleine Gestalten huschten am Ende des Ganges vorbei. Rotblond, hektisch, verschwunden im nächsten Schatten. Ron Weasley und Harry Potter, auf dem Weg in den verbotenen Teil des Schlosses. Schnell. Verzweifelt. Zielgerichtet.
Khepris Atem stockte. „Sie wissen es,“ hauchte sie. „Oder glauben es zu wissen. Sie… sie gehen in die Kammer.“ Sekani fluchte. Aaron wurde weiß im Gesicht.
Khepri presste beide Hände auf die Karte. „Wir sind zu spät, aber nicht nutzlos.“ fluchte sie. Sie holte tief Luft. „Wir gehen zu Sprout. Jetzt. Wir sagen ihr alles.“ Sekani packte sie an der Schulter. „Und wenn wir Ärger bekommen?“
Khepris Stimme zitterte, aber nicht vor Angst. „Dann ist das besser, als jemanden sterben zu lassen.“

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