Kapitel 9 - Was bleibt

Veröffentlicht am 27. November 2025 um 12:54

Der Sommer kroch in Hogwarts ein - warm, weich und mit einem ganz leichten Duft von Freiheit, der durch die Fenster drang, wenn der Wind die richtigen Launen hatte. Die Prüfungen rückten näher, die Stimmung hob sich spürbar. Hermine und Penelope waren noch immer versteinert, aber Madam Sprout hatte Hoffnung, dass bald ein Gegenmittel verfügbar sei.
Khepri saß an einem Tisch im Innenhof, das Sonnenlicht schimmerte auf ihren offenen Pergamentrollen. Sie lernte nicht wirklich. Ihr Blick schweifte über die anderen Schüler - lachend, streitend, spielend - und blieb dann an dem kleinen grauen Kästchen hängen, in dem sie Briefe aufbewahrte. Ein Kästchen, das seit Wochen nicht mehr befüllt worden war. Bis heute. Aurora hatte vor fünf Minuten einen Umschlag fallen lassen, direkt auf ihre Notizen. Die Schrift auf dem Pergament kannte sie sofort. Shukran. Ihr Herz verlor für einen Moment den Takt. Sie zögerte. Dann brach sie das Siegel und glättete den Brief mit beiden Händen.

Meine liebste Khepri,
ich hoffe, du sitzt, wenn du das liest, und wenn nicht, dann setz dich bitte schnell hin - denn ich habe Neuigkeiten.
Zuerst das Wichtigste: Maya geht es besser. Nicht nur ein bisschen - wirklich besser. Sie ist nicht mehr ans Bett gefesselt. Sie kann wieder allein stehen, zumindest ein paar Minuten. Elena sagt, wenn es so weitergeht, darf sie nächste Woche wieder kurze Spaziergänge im Garten machen. Du kannst dir vorstellen, wie sie gestrahlt hat, als sie es hörte. Ich weiß, ich sollte neutral bleiben, damit sie nicht zu viel Hoffnung auf einmal bekommt, aber ich konnte nicht anders. Ich hätte vor Glück fast geweint.
Was mich betrifft... Ich bleibe erst einmal hier. Professor Sprout und Professor Dumbledore haben mir erlaubt, die Prüfungen Anfang nächsten Jahres nachzuholen. Professor Sprout schickt mir den Stoff. Es fühlt sich seltsam an, nicht bei euch zu sein. Es fühlt sich fehl am Platz an– aber richtig. Maya braucht mich. Und ich möchte da sein.
Ich vermisse dich jeden Tag. Ich vermisse Hogwarts. Ich vermisse sogar Percy, aber sag ihm das bitte nicht, sonst glaubt er noch, er wäre beliebt.
Küss Liliana von mir. Und Maya hat gesagt, ich soll dir ausrichten, dass sie an dich denkt. Sie schuldet dir etwas Großes - wahrscheinlich mehrere Runden Tee oder einen ganzen Eimer Schokolade.
Ich liebe dich, Schwesterchen. Halte durch. Bald ist Sommer.
Shukran

Als Khepri den Brief sinken ließ, war ihre Kehle eng wie ein geöffneter Knoten. Erleichterung brandete durch sie – warm und hell. Maya war auf dem Weg der Besserung. Shukran würde bald wieder lachen. Vielleicht würden sie nächstes Jahr wieder gemeinsam durch die Korridore rennen, zwei Khairys wie zwei Flammen im Wind. Doch gleichzeitig fühlte sie sich… Allein. Einen Hauch zu leicht. Und einen Hauch zu schwer.
Der Platz neben ihr, der seit Wochen leer war, bleib leer. Shukrans Lachen fehlte. Sein Blick, sein leises Grinsen, sein „Du schaffst das“, das ihr oft mehr half als jedes Lehrbuch. Sie faltete den Brief sorgfältig und schob ihn zurück ins Kästchen. Dann griff sie zögernd an das Amulett, das in ihrer Umhangtasche lag - es war still, seit der Basilisk tot war. Shukrans Worte brannten in ihr nach. Ihr Finger zuckte über die leere Stelle an ihrem Hals. „Ich weiß nicht, ob ich bereit bin“, flüsterte sie in die warme Luft. Aber vielleicht war genau jetzt der Moment, an dem sie stark genug sein musste – auch ohne Shukran an ihrer Seite.

Khepri fand Percy im Gemeinschaftsraum der Vertrauensschüler, die Stirn über ein Pergament gebeugt, als wolle er es durch pure Willenskraft lösen. Liliana lag mit dem Kopf nach unten über einem Polsterstuhl und stöhnte dramatisch. „Bitte sag mir, du bringst gute Nachrichten“, murmelte sie, ohne aufzuschauen. „Die Hälfte der Schule riecht inzwischen nach Angstschweiß und Prüfungsstress.“ „Kommt drauf an“, sagte Khepri leise. Percy hob sofort den Kopf. Er bemerkte als Erster, dass ihre Hände zitterten. Liliana richtete sich auf, strich sich die Locken aus dem Gesicht und musterte sie aufmerksam.
„Ein Brief?“, fragte Percy. Das allein reichte. Khepri nickte und setzte sich zwischen die beiden, zog den Brief wieder hervor und reichte ihn Percy. Liliana beugte sich vor Khepri und sah über seine Schulter. Percy las still. Seine Miene wurde weicher, ernster - ein warmes Verständnis, das nur Percy Weasley zustande brachte. „Maya erholt sich“, sagte er sanft. „Das ist wirklich eine gute Nachricht.“ Liliana nickte heftig. „Ja! Also… es ist traurig, dass er noch nicht zurückkommt, aber- Khepri, das ist doch wunderbar!“ Khepri presste die Lippen zusammen. Sie wollte zustimmen. Wirklich. Aber das Loch in ihrer Brust reagierte anders als ihr Kopf. „Er fehlt mir“, sagte sie brüchig. „Jeden Tag.“ Liliana legte ihr die Hand auf die Schulter. „Das darf er auch.“ Percy falterte den Brief wieder zusammen und reichte ihn ihr vorsichtig zurück– fast ehrfürchtig. „Du solltest auf dich achten, solange er weg ist“, sagte er. „Er würde sich nur Sorgen machen, wenn er wüsste, wie du herumläufst.“ „Danke, Percy,“ antwortete sie. „Ich versuche es.“
Dann - ein Moment, zögernd, weich: „Und das Amulett?“ fragte er leise. Khepri sah weg. „Ich… kann es noch nicht.“ Er nickte. „Dann zwingt dich niemand. Du trägst schon genug.“ Liliana stützte das Kinn auf die Hand. „Und… Marcus?“ „Liliana.“ Khepri schlug die Hände vors Gesicht. „Was?“ fragte Liliana unschuldig. „Es war eine normale Frage.“ Percy hob eine Augenbraue. „Du wirkst tatsächlich… anders, wenn es um ihn geht.“ „Nein, tue ich nicht!“ „Doch“, sagten beide gleichzeitig. Khepri stöhnte. „Ich hasse euch.“ Liliana grinste breit, schlang den Arm um sie und drückte ihre Wange gegen Khepris. „Wir wissen.“ Percy lächelte sachte. „Und wir sind für dich da. Auch wenn du drauf bestehst, dass du es allein schaffst.“
Khepri spürte ein warmes Pochen hinter den Augen. Familie war nicht nur Blut. Manchmal waren es zwei Freunde, die sie zur Weißglut trieben und gleichzeitig zusammenhielten.
Sie wollte gerade auf etwas Schlagfertiges antworten, als plötzlich Stimmen und lautes Trampeln über den Gang hallten.„Was zum-?“ Liliana sprang auf. Die Tür flog auf. Professor Sprout - außer Atem, aber strahlend - trat ein.
„Sie sind geheilt!“, rief sie, ohne jede Einleitung. „All unsere versteinerten Schüler - das Gegenmittel hat funktioniert!“ Percy erstarrte.
„Penelope?“, flüsterte er. Sprout nickte. „Wacht gerade auf. Madam Pomfrey wollte, dass Sie kommen.“ Percy war bereits auf dem Gang, noch bevor sein Stuhl richtig umgefallen war. Liliana prustete. „Der Junge rennt, wenn’s wichtig wird.“ Khepri atmete tief durch. Dann standen sie beide auf und folgten ihm.
Als sie ankamen, lag Penelope Clearwater bereits aufgerichtet in ihrem Bett, verwirrt, aber lächelnd. Percy stürmte hinein, blieb jedoch abrupt stehen - als hätte er Angst, sie zu berühren. „Penny?“, brachte er hervor. Sie blinzelte, erkannte ihn - und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Percy? Bist du wirklich-“ „Ja“, sagte er, und dann konnte niemand mehr beschreiben, wer wen zuerst erreichte. Er schloss sie in die Arme, vorsichtig, fast ehrfürchtig, und sie vergrub das Gesicht an seiner Schulter. „Ich hab dich so vermisst“, murmelte sie. Percy schloss die Augen, die Hände an ihren Wangen, seine Stirn gegen ihre gelehnt. Und dann küsste er sie. Lang, weich, unglaublich behutsam - und zum ersten Mal seit Wochen fiel der Druck von Khepris Brust wie Sand vom Wind. Liliana seufzte dramatisch. „Ugh. Süß.“ „Sehr süß“, widersprach Khepri lächelnd. Liliana hakte sich bei ihr ein. „Und jetzt?“ Khepri atmete tief ein. „Jetzt“, sagte sie, „holen wir uns unser Leben zurück.“

 

Hogwarts fühlte sich anders an. Nicht normal - dafür lag noch zu viel Staub aus Angst in den Ecken, zu viele Schatten in den Fluren, die Khepri unwillkürlich zusammenzucken ließen. Aber leichter, als hätte das Schloss selbst einen Atem ausgestoßen, den es zu lange gehalten hatte. Schüler liefen wieder in Gruppen, diesmal mit gedämpftem Lachen, vorsichtigen Schritten - aber sie liefen. Fackeln brannten ein bisschen heller. Die Wände wirkten weniger angespannt.
Khepri saß mit Liliana auf dem Weg zu den Gewächshäusern; Liliana erzählte etwas über Miles, der angeblich damit prahlte, wie „heldenhaft“ er gewesen wäre, wenn jemand ihn versteinert hätte - aber Khepri hörte nur halb zu.  Sie hatte kaum geschlafen. Kaum gegessen. Der Basilisken-Schrei hallte noch immer in ihr nach.
Und Shukran war nicht da, um diesen letzten Rest Zittern aus ihr herauszulachen. „Du hörst wieder nicht zu“, stellte Liliana fest und stupste sie in die Seite. „Ich… denke nach.“ „Über alles? Oder über ihn?“ Liliana grinste so breit, dass es ungesund sein musste. „Über alles“, murmelte Khepri, und Liliana zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts. Ein kleines Geschenk.
Als sie sich trennten, um zu ihren jeweiligen Wegen zu gehen, blieb Khepri schließlich vor dem Eingang der Gewächshäuser stehen. Sprout hatte sie gebeten, kurz vorbeizukommen.
Sie klopfte an. Der Duft von Erde, Kräutern und Wärme umhüllte sie sofort. „Ah, da sind Sie.“ Professor Sprout saß an einem großen Tisch, auf dem Kräuterbündel und Töpfe verteilt waren. Sie sah müde aus, aber ihre Augen funkelten freundlich. „Setzen Sie sich, Miss Khairy.“ Khepri tat es - mit einer Mischung aus Unbehagen und Neugier. Sprout legte die Hände vor sich zusammen. „Wie geht es Ihnen? Wirklich?“ Khepri öffnete den Mund - und schnappte nach Luft, statt etwas herauszubringen. Sprout lächelte mild. „Genau so sehen die meisten aus, die etwas durchgemacht haben.“ Khepri nickte langsam. Ihre Finger rieben sich unruhig gegeneinander.
„Professor… ich wollte Ihnen noch sagen… Ich hätte früher etwas sagen müssen.“ „Sie sind siebzehn.“ Sprout schnaubte sanft. „Ich erwarte von niemandem in diesem Alter, ein uraltes Rätsel zu lösen, das selbst Professor Dumbledore nur mit Glück und Erfahrung erkannt hat.“ Die Worte trafen weicher als erwartet. Und genau dort, wo sie gebraucht wurden. „Sie haben geholfen, Miss Khairy. Und Sie haben das Richtige getan.“ Khepri atmete aus - die Art von Ausatmen, die man erst bemerkt, wenn man sie gemacht hat. Sprout schob ihr das kleine Kräuterpäckchen zu. „Für Ihren Schlaf“, erklärte sie. „Lavendel, Goldfeldernuss und ein bisschen Sternwurz. Nicht stark - aber genug, um die Albträume leiser zu machen.“ „Danke“, flüsterte Khepri. „Und-“ Sprout beugte sich vor, ein kleines, wissendes Funkeln im Blick. „Ich habe gehört, Sie hätten jemanden… in der großen Halle gefunden, der Sie beruhigt hat.“
Khepri wurde schlagartig purpurrot. Sprout lächelte wie jemand, der viel mehr wusste, als sie sagte. „Er ist ruppig“, murmelte Sprout. „Und loyal. Wie eine sehr große, sehr schlecht gelaunte Pflanze. Ich mag solche.“ Khepri brachte ein ersticktes Geräusch hervor, das irgendwo zwischen Protest und Panik schwankte. „Gehen Sie nur, Miss Khairy.“
Sprout winkte ab. „Und sagen Sie Mr. Flint, dass er in Zukunft nicht im Gewächshaus herumtrampeln soll wie ein nasser Troll. Die Bubotubler haben noch immer Angst vor ihm.“ Khepri stolperte fast aus dem Gewächshaus - aber mit einem Lächeln, das sie selbst überraschte. Zum ersten Mal seit Wochen fühlte sie sich tatsächlich… leichter.

 

Der Juni legte sich wie ein sanfter Schleier über Hogwarts. Kein Schrei aus den Wänden, kein Zischen, keine eisige Furcht in der Brust. Nur Sonne, die durch die hohen Fenster fiel, Staubkörner, die im Licht tanzten, und Schüler, die langsam wieder lernten, wie man lachte. Prüfungszeit. Und mit ihr der kleine, nervöse Strom, der immer durch das Schloss lief, wenn Federkiele über Pergament kratzten und Köpfe in Lehrbüchern verschwanden.
„Ich schwöre, sie haben die Fragen schwerer gemacht als letztes Jahr“, murrte Aaron und stützte den Kopf auf beide Hände. „Sie haben die Fragen anders gemacht“, korrigierte Maralen und schob ihm einen Keks zu. „Was nicht dasselbe ist. Du musst nur… äh… denken.“ „Sehr hilfreich“, brummte Aaron. Khepri saß ihnen gegenüber, ein Stapel alter Zaubergeschichten aufgeschlagen, die sie eigentlich für Geschichte der Zauberei brauchte, aber ihr Blick wanderte immer wieder davon ab. Liliana lernte neben ihr, schön wie immer, aber mit Tinte an der Wange - ein seltenes Zeichen, dass selbst sie an ihren Grenzen war.  Sekani, der für seine Abschlussprüfungen büffelte, war so konzentriert, dass er vermutlich nicht einmal gemerkt hätte, wenn ein Drache am Fenster vorbeigeflogen wäre. Percy saß weiter hinten zwischen hohen Regalen, Penelope dicht an seiner Seite. Seit ihrer Heilung war ihr Lächeln etwas weicher geworden - und Percy sah sie an, als würde er sich an jeder Berührung neu vergewissern, dass sie wirklich da war. Der Kuss, den die beiden am ersten Tag nach dem Aufwachen geteilt hatten, war Hogwarts-Legende geworden. Khepri empfand so viel Freude für die beiden.
„Du musst die Runen nicht auswendig können“, sagte Liliana und schlug das Buch zu. „Nur… na ja. Doch. Eigentlich schon.“ „Du bist keine Hilfe“, seufzte Khepri. „Doch.“ Liliana lehnte sich näher. „Ich bin emotionale Hilfe.“ Khepri hob eine Augenbraue. „Und wie sieht die aus?“ „Du schaffst das“, sagte Liliana ernst, mit einer Handbewegung, als wolle sie ihr Stärke zuschieben. „Und wenn nicht, fälsche ich notfalls dein Prüfungsergebnis.“ Khepri lachte zum ersten Mal an diesem Tag richtig - und es tat gut.
Zwischendurch wischte sie sich immer wieder über die Arme, als könnte sie die Leerstelle neben sich körperlich spüren. Shukran hätte hier sitzen sollen. Er hätte Aaron beruhigt. Hätte Maralen geholfen, ihre Notizen zu ordnen. Hätte Sekani geärgert, wenn der übertrieb. Aber der Stuhl neben ihr war leer. Und es fiel ihr schwerer als gedacht.

 

Als in der großen Halle der Prüfungsplan aushing, drängten sich Schüler davor. Khepri kam gerade aus einem Gespräch mit Percy, als sie Marcus sah. Er stand dort, Arme verschränkt, starrte auf den Plan, als würde er ihn einschüchtern wollen. Als sie ihm versehentlich zu nah kam, hob er den Blick. Ein Sekundenbruchteil, ein ruhiger Atemzug zwischen ihnen. Sie wollte Danke sagen, für die Nacht in der Großen Halle, für das Stillhalten, für das Dasein. Aber ihr Mund bewegte sich nicht. Er nickte lediglich knapp, unaufdringlich, eine kleine Geste, die fast… zart wirkte. Bevor Adrian ihm den Arm umwarf und irgendetwas über „Flint, du Troll, du guckst auf den falschen Prüfungstag“ brüllte. Marcus schnaubte. Und der Moment war vorbei.

 

Die Tage schoben sich aneinander vorbei. Prüfungen kamen und gingen. Lavendeltee im Schlafsaal. Gemeinsames Frühstück, bei dem Khepri Marcus konsequent ignorierte und trotzdem spürte, wenn er den Raum betrat. Abende, an denen sie zusammen mit Liliana am Kamin saß und versuchte, keine Albträume zu haben.
Es war… normal. Fast normal. So normal, wie ein Juni nach einem Basiliskenangriff sein konnte. Und in dieser stillen Normalität lag etwas Neues: Raum. Raum zum Atmen. Raum zum Denken. Raum für das, was als Nächstes kommen würde.

 

Der Korridor vor der großen Halle war leer, nur das gedämpfte Echo der letzten Schüler, die aus dem Abendessen strömten, hing noch in der Luft. Khepri blieb stehen. Heute nicht weglaufen, dachte sie. Nicht wieder davonschleichen, bevor er sie ansprechen konnte. Nicht so tun, als wäre alles wie immer. Sie atmete tief ein und drehte sich um, genau in dem Moment, in dem Marcus aus der Halle trat. Er blieb stehen, als hätte er ebenfalls gewusst, dass der Moment kommen musste. „Khepri,“ sagte er, und sein Name in seinem Mund fühlte sich an wie warmer Atem in kalter Luft. „Können wir… reden?“ fragte sie, bevor sie es sich wieder anders überlegen konnte. Er nickte. Ein knappes, kontrolliertes Nicken - aber sein Blick verriet ein Flackern von Nervosität, das Marcus Flint normalerweise nie zuließ. Sie gingen ein paar Schritte, bis sie am Rand des Korridors standen, nahe der Fenster, durch die das dunkle Wasser des Sees schimmerte. Khepri starrte in die Unschärfe des Lichts. „Ich weiß nicht, was das hier ist,“ begann sie heiser. „Zwischen uns. Ich weiß nur, dass ich-“ Ihre Stimme brach. Wunderbar. Genau jetzt.
Marcus fuhr sich durch die Haare. Ein unruhiges, menschliches, absolut nicht-marcushaftes Zeichen. „Ich hab dich nie… ärgern wollen,“ sagte er. Khepri schnaubte und zog die Stirn kraus. „Ähm. Doch? Die letzten sechs Jahre lang, um genau zu sein.“ „Nicht so“, murmelte er. „Nicht damit.“ „Damit?“ Sie hob eine Augenbraue. Er presste die Lippen zusammen, als müsste er sich selbst zwingen, die Wahrheit auszusprechen. „Wenn ich dich ärgere, dann…“ Er atmete scharf ein. „…merke ich, dass du da bist.“ Khepri blinzelte. „Das ist… eine wirklich schlechte Begründung.“ „Ich weiß.“
Er wirkte frustriert über sich selbst. „Ich bin nicht gut darin. Ich weiß nicht, wie man… normal ist. Oder freundlich. Nicht zu Leuten, die…“ Noch ein Atemzug. Dann sagte er leiser, fast scheu: „…die mir etwas bedeuten.“ Khepris Herz klopfte gegen ihren Brustkorb.
Er sah sie nicht an. Er starrte stur gegen die Fensterbank, als wäre der See weniger bedrohlich als ihr Gesicht. „Als du da nachts im Gang standest,“ sagte er leise weiter, „und ich dich so gesehen hab… ich dachte einfach-“ Er schluckte.  „ich muss irgendwas tun. Weil ich’s nicht ertragen hab, dass du so aussiehst.“ „Marcus-“ „Und bevor du fragst: Nein, ich erwarte nichts. Gar nichts.“ Jetzt zwang er sich, sie anzusehen. „Ich wollte nur, dass du’s weißt. Damit du nicht denkst, ich mache das aus Langeweile. Oder weil ich gern Streit habe. Oder-“ „Marcus.“ Sie legte ihm eine Hand auf den Unterarm. Er verstummte sofort. Khepri atmete durch, flach und warm. „Ich weiß nicht, was ich fühle,“ gab sie zu. „Es ist… viel. Du bringst mich zur Weißglut, und gleichzeitig-“ Sie schloss kurz die Augen. „-fühlt es sich an, als würde die Welt still werden, wenn du in der Nähe bist.“ Er sah aus, als wäre er von einem Besen geschlagen worden. „Was… heißt das?“ fragte er rau.
„Dass ich das nicht überstürzen will,“ sagte sie vorsichtig. „Nicht jetzt. Nicht mitten im Schulchaos, nicht mit Shukran, der zuhause ist, und all dem, was gerade passiert ist.“ Er nickte langsam. Die Enttäuschung in dieser Bewegung war leise, aber ehrlich. „Aber,“ fügte sie hinzu, „ich möchte, dass wir… weiterreden. So wie jetzt. Ohne Sticheln. Ohne Mauern. Ohne jemandem etwas vorzuspielen.“ Langsam hob sich der Blick in seinen Augen. Vorsichtig. Fast hoffnungsvoll.
„Okay,“ sagte er schließlich. „Kein Theater mehr.“ „Kein Streit um des Streits willen,“ ergänzte sie. „Nur ein bisschen Streit?“ fragte er, ein kleines Grinsen an den Lippen. Khepri verdrehte die Augen, aber sie lächelte. „Ein kleines bisschen.“ Für einen Moment standen sie einfach so da, zwischen Wasserlicht und Schatten, während Hogwarts um sie herum langsam in Sommerruhe verfiel. Dann sagte Marcus leise „Khepri… für das, was es wert ist… ich bin froh, dass du noch hier bist.“ Ihr Herz setzte einen Schlag aus. „Ich auch,“ flüsterte sie. Er nickte, dreht sich um, ging ein paar Schritte, blieb stehen, als würde er sich etwas merken wollen - und sagte ohne sich umzudrehen „Wir kriegen das hin.“
Khepri stand da, mit einem warmen, verwirrten, schmerzlichen, schönen Gefühl in der Brust. Und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sich etwas nicht wie Chaos an. Sondern wie ein Anfang.

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